# taz.de -- Techno von Cabaret Voltaire: Kopfstoß für Mussolini | |
> Das Trio Cabaret Voltaire kombinierte schon Anfang der 80er | |
> Tonband-Cut-ups mit Maschinen-Funk. Jetzt kommt ihr prähistorischer | |
> Techno wieder. | |
Bild: Cabaret Voltaire, Ende der Siebziger, noch ganz analog: Richard H. Kirk, … | |
Richard H. Kirk kann sich freuen. In diesem Jahr feiert er ein doppeltes | |
Jubiläum: Vor vierzig Jahre gründete er mit seinen Kollegen Stephen | |
Mallinder und Chris Watson in der nordenglischen Industriestadt Sheffield | |
die Band Cabaret Voltaire, und dreißig Jahre ist es her, dass ihr | |
einflussreiches Album „The Crackdown“ erschien. | |
Soeben wurde zudem eine Neuauflage in der Box „Collected Works 1983–1985“ | |
mit weiteren Alben aus der mittleren Phase der Elektronikpioniere | |
veröffentlicht. Nostalgisch will Richard H. Kirk trotzdem nicht werden: „Wo | |
sind die vierzig Jahre geblieben?“ | |
Eine berechtigte Frage – passiert ist seitdem einiges. 1973 hatte das Trio | |
mit spielerisch-abstrakten Tonbandexperimenten begonnen und sich allmählich | |
an Songformen mit erkennbaren Rhythmen orientiert. Ihre düsteren | |
Collagenarbeiten, die von der Cut-up-Technik des Beat-Schriftstellers | |
William S. Burroughs inspiriert waren, begründeten ihren Status als eine | |
der ersten Industrial-Bands. Stücke wie „Spread the Virus“ oder „Do the | |
Mussolini (Headkick)“ gaben gegen Ende der Siebziger der damaligen Stimmung | |
aus Paranoia und Zukunftsangst einen beklemmenden Ausdruck, ließen mitunter | |
aber auch ihren zynischen Humor durchblicken. | |
„The Crackdown“ markierte 1983 für die Band eine Zäsur. Es war ihr erstes | |
Album als Duo, nachdem Chris Watson die Band verlassen hatte. Und es war | |
das erste Mal, dass sie Drumcomputer und Sequenzer einsetzten, um tanzbare | |
Musik zu machen. Was wie ein ästhetischer Bruch klingt, war Fortschritt: | |
„Wir mochten schon immer Funk von Künstlern wie Hamilton Bohannon oder der | |
Fatback Band“, sagt Kirk. „Sobald wir Sequenzer und Drumcomputer benutzten, | |
konnten wir auch einen Groove zum Tanzen erzeugen, ohne versierte Musiker | |
zu sein.“ | |
## Ansätze von Groove | |
Neben den Klassikern hörten Cabaret Voltaire damals neuen Electro von DJs | |
wie Afrika Bambaataa. Zwar hatte es bei Cabaret Voltaire Ansätze von Groove | |
gegeben, doch die Resultate waren nie so druckvoll ausgefallen wie auf „The | |
Crackdown“. Die kommerziellere Produktion bedeutete für die Band keine | |
Abkehr von ihrer Haltung: Im Auftakt „24-24“ etwa hört man Aufnahmen von | |
schwarzen Gefängnisinsassen, die über ihre Haftbedingungen sprechen, | |
Stephen Mallinder kommentiert dies mit heiserem, rhythmischem Sprechgesang. | |
Damit ihre Musik im Club die gewünschte Wirkung erzielen konnte, ließen | |
Kirk und Mallinder Maxiversionen von einzelnen Stücken wie „Just | |
Fascination“ mixen. „Collected Works“ enthält sämtliche Maxis von 1983 … | |
1985. | |
Dass Cabaret Voltaire mit Tonbändern arbeiteten, war nicht ausschließlich | |
als politische Aussage gedacht, sondern entsprang dem Bedürfnis nach einem | |
neuen Sound: „Wir wollten mit Klängen arbeiten, die nicht einfach von | |
Instrumenten stammten.“ | |
Dieses Proto-Sampling perfektionierten Cabaret Voltaire mit ihren folgenden | |
Alben. Mussten die Stimmen und Geräusche auf „The Crackdown“ noch manuell | |
vom Band in den Mix eingefügt werden, stand ihnen bei der Arbeit an | |
„Micro-Phonies“ von 1984 ein digitaler Fairlight-CMI-Sampler zur Verfügung, | |
mit dem sich beliebige Aufnahmen und Klänge genau programmieren ließen. | |
## Teil der Zukunft | |
Zur Miete, wie Kirk hervorhebt: „Ein Fairlight kostete damals ungefähr | |
100.000 Pfund.“ Er war zudem so kompliziert zu bedienen, dass man gleich | |
einen Tontechniker mit dazu geliefert bekam, der den Sampler für die | |
Musiker einstellte. | |
Einen eigenen, primitiveren Sampler legten sich Cabaret Voltaire für „The | |
Covenant, The Sword and the Arm of the Lord“ (1985) zu, ein Album, auf dem | |
man die für die Achtziger typische Sampling-Ästhetik mit ihrer Mischung aus | |
fremdartigen und zugleich vertrauten Klängen wie Bläsern oder Schlagzeug | |
bestens nachvollziehen kann. Die Kombination aus programmiertem Funk und | |
Sampling führte Kirk in eine neue Richtung fort, nachdem er begonnen hatte, | |
frühe Techno- und House-Platten zu hören: „Die Musik aus Detroit und | |
Chicago Mitte der Achtziger erinnerte mich an Kraftwerk. Aber sie war | |
anders und von Schwarzen, nicht von weißen Europäern. Sie wies mir den Weg | |
in eine andere Zukunft.“ | |
Anfang der Neunziger wurde Kirk selbst Teil dieser Zukunft, als er mit dem | |
Produzenten Richard Barratt das Projekt Sweet Exorcist startete. Ihre | |
Version von Techno und House, für die sie den Titel eines | |
Curtis-Mayfield-Albums als Namen wählten, erschien 1991 beim | |
einflussreichen Sheffielder Elektroniklabel Warp als dessen erstes Album. | |
## Bleeps und Clonks | |
Die fiepigen Synthesizertöne des Duos bildeten das Fundament von | |
„Bleep-Techno“ und Sweet-Exorcist-Tracks wie „Testone“ oder „Clonks C… | |
wurden zu Klassikern. Heute veröffentlicht Kirks ehemaliger Kollege Richard | |
„DJ Parrot“ Barratt unter dem Namen Crooked Man wieder House, der an den | |
Stil von Sweet Exorcist anknüpft. | |
Techno sollte auch in Kirks Soloprojekten während der Neunziger bestimmend | |
bleiben. Er überführte die Clubmusik in eine abstraktere Form – | |
„Intelligent Dance Music“ genannt. Sogar die im Techno verbreitete | |
inflationäre Pseudonymie machte sich Kirk zu eigen: „Als ich zum ersten Mal | |
eine Platte unter dem Namen Sandoz produzierte, wussten die Leute nicht, | |
dass sie von mir war. Es war fantastisch, denn so gab es meine Musik ohne | |
die Geschichte von Cabaret Voltaire dazu. Dadurch wurde sie anders | |
wahrgenommen.“ | |
Im Gegensatz zu Kirk und Mallinder entfernte sich Chris Watson als | |
Solokünstler vollständig von der Clubmusik. Stattdessen blieb er seiner | |
Leidenschaft für Tonbandaufnahmen treu und spezialisierte sich nach seiner | |
Zeit bei Cabaret Voltaire auf Naturgeräusche. Im Auftrag der BBC reist er | |
in entlegenste Gegenden, um den Gesang seltener Vögel oder das Knirschen | |
von Gletschern festzuhalten. Hin und wieder verarbeitet er diese | |
akustischen Landschaften zu Musik. Auf seinem aktuellen Album „In St. | |
Cuthbert’s Time“ nutzt Watson diesen dokumentarischen Ansatz, um die | |
unberührte Soundscape der nordenglischen Insel Lindisfarne aus der Zeit | |
ihres Bischofs Eadfrith im 8. Jahrhundert zu simulieren. | |
Stephen Mallinder verfolgt ebenfalls eigene Musikprojekte oder widmet sich | |
der Popmusik aus akademischer Perspektive – 2011 erschien seine | |
Dissertation zum Thema „Movement: Journey of the Beat“. Und Kirk hat | |
Cabaret Voltaire inzwischen in veränderter Gestalt wiederbelebt: „Cabaret | |
Voltaire wird ein Installationsprojekt sein mit Visuals, Filmen und | |
Live-Musik, aber ganz sicher keine Band.“ Wer weiß, vielleicht ist neben | |
dem britischen Understatement ja doch Nostalgie im Spiel, wenn er über das | |
Erscheinen der „Collected Works“-Box sagt: „Ich bin sehr stolz darauf. Es | |
ist toll, dass die Musik immer noch erhältlich ist. Es bedeutet, dass | |
irgendetwas daran gut gewesen sein muss.“ | |
22 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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