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# taz.de -- Pop von Jessy Lanza: Danach ist die Pose wieder möglich
> Jessy Lanza veröffentlicht ein bemerkenswertes Debütalbum. Es verhandelt
> House, Synthiepop und R&B aus der Perspektive der Provinz.
Bild: Die Welt ist schlecht, aber ihre Musik ist toll: Jessy Lanza.
Zu den Sehnsuchtsorten des Pop gehört die kanadische Industriestadt
Hamilton definitiv nicht. Das könnte auch so bleiben, obwohl Jessy Lanza,
28, aus Hamilton stammend, mit „Pull my hair back“ gerade ein
bemerkenswertes Debütalbum veröffentlicht hat.
Von der Künstlerin existiert ein Foto, auf dem sie skeptisch auf
Hochspannungsmasten blickt. Dahinter liegen einige Bäume, flaches Land.
Aufgenommen am Rand ihrer Heimatstadt, die in der Provinz Ontarios liegt.
Das Gegenteil von Glamour als raureife Oberfläche: Denn „Pull my hair back“
weist alles auf, was den Popjahrgang 2013 prägt und auch darüber hinaus in
der Zukunft Bestand haben wird. Zum einen lässt sich die Musik von Jessy
Lanza keineswegs von Genregrenzen aufhalten und trampt spielend von
Synthiepop über House nach R & B und wieder zurück. In dieser rastlosen,
aber immer exakten Bewegung kreiert Lanza ganz selbstverständlich ein
eigenes Klangprofil.
## Ins Schwarze der Gefühle
Da ist schon allein ihre eisige Stimme, die pfeilgerade ins Schwarze der
Gefühle trifft. Zum anderen geschieht Lanzas Inszenierung künstlerisch
autonom, do it yourself nicht als leere Geste, sondern pure Notwendigkeit.
Erst danach ist die Pose wieder möglich. Jessy Lanza lässt monströse und
prominent nach vorne gemischte Synthesizertöne, füllige, vom HipHop
abgeleitete Beats und unkenntlich gemachte Samples in ihre sehnsuchtsvollen
Texte im Mix kulminieren.
Das klingt nie sanft und reibungslos, da werden Ecken und Kanten
angesteuert, da rummst es mit Genugtuung. Über allem liegt eine dunkle
Ahnung, das der Lauf der Dinge doch komplizierter ist, als es Synthiepop in
den Achtzigern vorexerziert hat.
## Grundlegende Bedürfnisse
Lanza beschreibt in ihren Texten grundlegende Bedürfnisse nach Nähe,
zwischenmenschliche Probleme, sie bringt simple Beobachtungen zur Sprache,
die geradewegs hinaus aus der Isolation führen, in der ihre Musik entstand.
Im Titelsong geht es um einen Anruf, auf den die Vortragende wartet.
Geduld, die damit unnötig herausgefordert wird. Also kämmt sie ihr Haar
zurück.
„Ich drücke mich mit meiner Stimme anders aus. Auch weil sie weit entfernt
ist von den kräftigen Stimmen meiner Helden.“ Das ist nicht nur auf das
Delay zurückzuführen, welches Lanza auf ihre eigene Stimme legt und das
dazu führt, dass ihre Musik die Hörer auf angenehme Weise kalt lässt.
„Meine Songs entstehen in einer kleinen Gesangsbox in meinem Homestudio,
meist spät nachts“, hat Lanza dem Online-Magazin The Quietus über die
Entstehungsweise ihrer Lyrics erzählt.
„Es sind Collagen aus Worten. Ich kann mich an keine einzige Begebenheit
erinnern, die zu einem Text geführt hat.“ Ihre Songs verhehlen freilich nie
die Einflüsse: Mainstream-R & B von Aaliyah und Ginuwine aus den neunziger
Jahren, Disco von Patrice Rushen, all das SängerInnen, die
produktionstechnisch dick gepolstert waren, um große Gefühle und laszive
Empfindungen auszudrücken.
## Stahlwerke statt Bling-Bling
Auf all diese Unterstützung im Arrangement musste Jessy Lanza verzichten.
Bling-Bling bedeutet eben in einer Stadt, die nur Stahlwerke hat, etwas
anderes. Lanza hat wenig zur Verfügung und erreicht trotzdem das Maximale.
Etwa mit dem Sample einer männlichen Stimme, die in dem Song „Kathy Lee“
immer wieder den Frauennamen ruft.
Dazwischen Jessy Lanza, die ihre eigenen Worte dehnt, sie nachhallen lässt,
selbst Ein- und Ausatmen als Stilmittel einsetzt. Dass sie ihr Debüt als
Kanadierin auf dem Londoner Label Hyperdub veröffentlicht, ist auch wieder
so ein Beispiel für die Trope der transatlantischen Missverständnisse.
Hyperdub gehört zur Speerspitze der britischen Bassmusik, aber hat eben
auch ein Ohr für große Pop-Entwürfe. In einer besseren Welt wäre Jessy
Lanza in den Charts. Aber die Welt ist schlecht, und deshalb klingt Jessy
Lanza auch danach.
26 Sep 2013
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Kanada
Pop
Synthie-Pop
Kanada
R&B
Pop
London
Berlin
New York
Punk
Estland
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