# taz.de -- Disco-Diva aus Estland: Gewollte Symbole, spontane Power | |
> Intelligentes Spiel mit der Weiblichkeit: Die estnische Künstlerin Maria | |
> Minerva bei ihrem einzigen Deutschland-Konzert in Berlin. | |
Bild: Maria Minvera remixt auf der Bühne ihre eigenen Songs live. | |
Sie selbst kann sich keinen Balken vor die Augen machen, wie es bei den | |
projizierten Porträts auf der Leinwand der Fall ist. Dafür hat Maria | |
Minerva ihr glattes, flatterndes Haar, das sie mit geübten Schwingungen vor | |
ihr Gesicht fallen lässt – während ihrer gesamten One-Woman-Show am | |
Freitagabend. | |
Maria Minerva ist eine dunkle, fiebrige estnische Disco-Diva. Eine echte | |
Erscheinung, gerade 23 Jahre alt. In den letzten zwei Jahren hat sie sich | |
mit einem Strom von selbstproduzierten Tracks und Alben und Youtube-Videos | |
in das Bewusstsein der Underground-Szene gebracht. Mittlerweile lebt Maria | |
Minerva in New York, davor war sie in London. | |
Am Freitagabend ist die Protagonistin der Petite Scène in der | |
Berghain-Kantine. Sehr petite ist die Szene dieses Mal, erstaunlich wenige | |
konnten sich für Minervas Konzert von der Berlinale lösen. Dennoch | |
schmeichelt sie dem Publikum: „Lieber trete ich in Großstädten auf. Wenn | |
ich in der Provinz spiele, habe ich immer das Gefühl, dort gehöre ich nicht | |
hin.“ | |
## Delirium der Identität | |
Wem oder was sich Maria Minerva zugehörig fühlt, entwickelt sie im Laufe | |
des Abends jedoch zur Frage. Ihr Auftritt ist ein mediales | |
Identitätsdelirium – im Dunst ihrer frei übereinandergemischten Samples | |
tauchen R-’n’-B-Beats und Bangra-Sounds auf. Ihr verlorener, mädchenhafter | |
Gesang kollidiert mit den Visuals, die im Loop anonymisierte Porträts von | |
Männern – Barack Obama meint man darunter zu erkennen – als verpixelte | |
Fotografien oder in einer digitalen Retro-Animation an die Wand | |
projizieren. | |
Live auf der Bühne produziert Minerva neue Remixe ihrer eigenen Songs. | |
Fortwährend beugt sie sich, verdeckt vom wehenden Haar, über den | |
Samplingcomputer und holt aus ihm die tiefen Bässe Londons und den Dubsmog | |
von Los Angeles heraus. Teile ihres neuen, dritten, noch ungehörten Albums | |
„Bless“, das im März beim kalifornischen Label 100% Silk erscheinen wird, | |
mischt sie dazu, singt „Symbol of my Pleasure“ zu Gitarrenriffs und | |
glockenartigen Drums. | |
Ihre Texte kreiere sie wie Eingaben, sagte sie ein paar Tage vorher in | |
einem Radiointerview, intuitive Satzformationen, simple Reimschemen, in | |
zwei Minuten eingesungen. Auch ihr Bühnensound gleicht einem verspielten | |
Klang- und Textversuch. Wie aus einem Bewusstseinsstrom singt sie in | |
disharmonischen Melodien „Set your mind free / Set your spirit free“. | |
Gesungene Worte schweben über einer übersteuerten Samplingwolke, das Wort | |
„Language“ flimmert in großen Lettern über die Leinwand hinter ihr. | |
## Feministische Theorie als Motivation | |
Maria Minervas Performance ist ein intelligentes Spiel mit dem Bild einer | |
jungen Weiblichkeit. Minerva, die am Londoner Goldsmiths College Visual | |
Cultures studiert hat und sich mit dem Titel ihres Debütalbums auf die | |
Feministin und Philosophin Hélène Cixous bezieht, entwickelt ihr visuelles | |
Auftreten aus der Theorie. Ihr kurzes, sehr kurzes Kleidchen an diesem | |
Abend, das ständige Kreiseln ihres aufgeblondeten Haarschopfs – das sind | |
gewollte Symbole. | |
Trotzdem rückt die Musikerin zunehmend aus der Unnahbarkeit ihrer | |
einstudierten Regungen heraus und gewinnt auf der Bühne spontane Power. | |
Mit rebellischen Gesten bricht sie das Bild des naiven Mädchens auf. Ihre | |
Stimme, die sie zunächst hinter dem krassen Delay-Effekt versteckt, wird | |
stärker und direkter, allmählich mindert sich die Videoprojektion zu einem | |
ornamentalen Beiwerk herab. Schließlich gibt es auf der Bühne nur noch die | |
Minerva. | |
Ganz am Ende spielt sie den Diva-Trumpf aus, setzt sich auf einen Barhocker | |
und säuselt breittönig „the sound“ zu einem schnellen Loop von Pat Ballar… | |
populärer Komposition „Mr. Sandman“. Das war’s – am nächsten Morgen m… | |
sie früh am Flughafen sein, verabschiedet sie sich lakonisch. Protest im | |
Publikum wehrt die Minerva mit einem galanten Handwinken ab. Ihr Equipment | |
packt sie eigenhändig in den Rollkoffer, noch einen Wodka, und sie rollt | |
davon. | |
10 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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