# taz.de -- Neues Album von Maria Minerva: Mich kenne ich nur vom Hörensagen | |
> Vom Bedroom zum Aufnahmestudio: Die estnische Künstlerin Maria Minerva | |
> und ihr neues Konzept-Pop-Album „Histrionic“. | |
Bild: Maria Minerva in einem seltenen Moment der Ruhe in ihrer Wahlheimat New Y… | |
Maria Minerva, die heilige Jungfrau einerseits, die römische Stadtgottheit | |
und Verflucherin Medusas andererseits – schon mit ihrem Namen kündigt die | |
estische Musikerin den Ikonoklasmus ihrer Kunst an. Minervas Sound | |
changiert zwischen Club und Experiment, ihre Selbstinszenierung zwischen | |
Lolita und Feministin, ihre Texte zwischen greifbarem Cliché und | |
entweichender Formlosigkeit. | |
Maria Minerva ist eine komplexe Kunstfigur, die uns nur scheinbar mit | |
zuckrig süßem Synthpop berauscht. „Histrionic“ ist das dritte Album der | |
26-jährigen Estin Maria Juur, so ihr bürgerlicher Name, das sie nun erneut | |
auf dem kalifornischen Label NotNotFun veröffentlicht hat. Es ist das | |
musikalische Selbstporträt einer weltläufigen Dame. | |
Darin findet sich der Eurodance ihrer Jugend in Estland, Drum-’n’-Bass- und | |
New-Wave-Anleihen aus ihrer Zeit in London, wo sie am renommierten | |
Goldsmiths-College Kunst studierte, ebenso wie R ’n’ B, HipHop und House, | |
wie er an Juurs derzeitigem Wohnort New York eine wichtige Rolle spielt. | |
Bald schon wird sie New York wieder gegen das psychedelische Los Angeles | |
vertauschen. | |
Die verhuschte und übersteuerte Ästhetik ihrer beiden vorangegangenen | |
Selfmade-Alben „Cabaret Cixous“ (2011) und „Will Happiness Find Me“ (20… | |
ist auf ihrem ersten reinen Studio-Album aber nun einem definierten und | |
voluminösen Clubsound gewichen. Das dumpfe Pluckern, das sie zuvor aus | |
simplen Laptop-Samples generierte, hat sich zum klaren Bass gewandelt, die | |
Klangschnipsel aus YouTube-Videos sind nun zu erkennbaren Patterns | |
geschärft. | |
## Übersteuernd leiernde Keyboards | |
Trotzdem hat Maria Minerva auf ihrer Passage von der Bedroom- zur | |
Studioproduzentin ihren unverwechselbaren Stil beibehalten: „Histrionic“ | |
ist gefüllt mit wiedererkennbaren musikalischen Motiven, die sogleich | |
wieder gebrochen werden. Beim Track „Interlude“ lässt sie Technosequenzen | |
auf einen holprigen Trommelrhythmus fallen, groovy Basstöne und | |
übersteuernd leiernde Keyboards kollidieren bei „Runaway“ und zum Finale | |
des House-Tracks „Endgame“ bleibt sie allein mit ihrer verhallten Stimme. | |
„Histrionic“, der Albumtitel ist typisch für Minervas konzeptionelle | |
Herangehensweise, die ihren pink Synthpop in eine ambivalente, | |
feministische Kunst entgleiten lässt. Mit der histrionischen | |
Persönlichkeitsstörung ersetzt die psychoanalytische Wissenschaft den | |
diffamierenden Begriff „Hysterie“. Vor allem Frauen eignet man gerne diese | |
Erkrankung, diese Neigung zu Egozentrik und Theatralik zu. | |
Maria Minerva greift damit ein Vorurteil auf, so wie sie ohnehin gerne mit | |
Klischees der Weiblichkeit um sich wirft. Ihre Texte sind gefüllt mit | |
mädchenhaften Sehnsüchteleien: „Please take me somewhere else“, „I’ve… | |
waiting for so long“ oder „You don’t have to say you love me“, singt si… | |
In ihren Videos schwingt sie erotisch vor psychedelischem Hintergrund oder | |
gondelt in einem Cadillac in Diva-Allüre mit Sonnenbrille und grellrot | |
geschminkten Lippen durch Los Angeles. Das Cover ihres neuen Albums zieren | |
hübsche, nackte Frauenbeine. Doch die Beine sind seltsam ineinander | |
verknotet, ihre Musikvideos sind absichtlich trashige DiY-Produktionen und | |
die Texte wirken ihrer Banalität wegen stets auch vage. | |
## Keine naive Weiblichkeit | |
Bewusst weicht Maria Minerva mit ihrer Inszenierung einer naiven | |
Weiblichkeit der Schablone aus. Trotz ihres frechen Spiels mit Bildern und | |
Motiven rückt in „Histrionic“ auch die Einsamkeit und Verlorenheit einer | |
jungen Weltenwanderin hervor. „I sought a soul that might resemble mine / | |
And I could not find it“ richtet sie sich mit ihrer unschuldigen Stimme in | |
freier Minerva’scher Tonfolge an sich selbst. | |
In Karl Ristiviki, dem estischen Autor, der lange Zeit im schwedischen Exil | |
lebte, scheint sie einen Seelenverwandten gefunden zu haben. „I almost have | |
the feeling that I am writing about someone very remote from myself, | |
someone I hardly know and whose life story I am only familiar with by | |
hearsay.“ schreibt er 1953 in seinem Roman, der im Englischen mit „Night of | |
Souls“ betitelt ist. | |
„Hingede öö“ heißt der Originaltitel auf Estisch, und eben dieses „Hin… | |
öö“ zitierend, verabschiedet sich Minerva auf „Histrionic“ in einer fre… | |
klingenden Sprache und mit einem verträumten Singsang, der der Melodie | |
entweicht hinein in den ungreifbaren Underground dieser absolut | |
eigenständigen Elektronika-Musikerin. | |
5 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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