# taz.de -- Neues Album von Maria Minerva: Jugendlich entrückte Musik | |
> Die estnische Künstlerin Maria Minerva kokettiert mit den Allüren einer | |
> 12-Jährigen. Ihr neues Album wirkt unfertig – und ist dennoch hörenswert. | |
Bild: Naive Sehnsüchteleien als geschickter Kunstgriff: Maria Minerva. | |
Minerva, das ist die Athene Roms. Sie ist die Schutzherrin der Dichtung und | |
der Künste, und sie ist die Gottheit, die die Geschicke des Staates lenkt. | |
Lavinia Fontana, eine der wenigen bekannten Künstlerinnen der Renaissance, | |
wagte sich einmal an die Figur der Minerva heran und malte einen Akt: die | |
Göttin in ihrem Gemach, unbekleidet, jugendlich und unschuldig, porträtiert | |
in dem Moment, als sie im Begriff ist, Gewand, Schutzschirm und Helm | |
anzulegen. | |
Auch die in London lebende 24-jährige estnische Künstlerin Maria Juur | |
widmet sich dem Komplex der Frau, die Weiblichkeit porträtiert. Und auch | |
sie wählte mit ihrem Künstlernamen Maria Minerva die römische Gottheit, um | |
mit ihrer Musik einen Einblick in die Kammer zu gewähren. Die Göttin | |
Minerva in ihrem Gemach und die Sängerin und Produzentin Maria Minerva in | |
ihrem Schlafzimmer. Die Künstlerin hat ihr Debütalbum „Cabaret Cixous“ | |
nämlich 2011 in ihrer Londoner Wohnung produziert. | |
Auch ihr zweites, soeben veröffentlichtes Werk, „Will Happiness Find Me“, | |
generierte sie an ihrem Laptop mit einer simplen Musiksoftware und | |
Klangfundstücken aus dem Internet. Das Resultat dieser Bedroom-Produktion | |
ist ein kosmischer Synth-Pop, ein übersteuerter, schleppender Rausch, mit | |
dumpfen Bässen, der nur an manchen Stellen mit Reminiszenzen an HipHop und | |
frühen Dancefloor aus der Endlosigkeit geholt wird. | |
Omnipräsent ist die hohe, nahezu mädchenhafte Stimme der Künstlerin. Ihr | |
Gesang schwebt in disharmonischen Melodien über der Sounddichte ihrer Musik | |
und offenbart erneut Einblicke in die Kammer der Minerva: Ihre Texte sind | |
unfertige, intime Reflexionen. Sie verirren sich in Sehnsüchten und | |
Antwortlosigkeit. Wie ein Teenagermädchen, das hinter verschlossener | |
Zimmertür in ihre naiven Selbsterzählungen versunken ist, singt Minerva „My | |
garden is my mind“ und fügt hinzu: „I dream of life full of mystery/My | |
magic future history /I make my wish up on a cloud.“ | |
Dass ihre jugendlich entrückte Musik ebenso viel Erotik beinhaltet wie das | |
Bildnis einer unbekleideten Göttin, ist der Künstlerin bewusst: „There ’s… | |
lot of sex in my music, but it’s pre- hormonal and a bit out there“, sagt | |
sie in einem Interview mit dem britischen Magazin The Wire. Ihre naiven | |
Sehnsüchteleien jedoch sind keine spätpubertäre Melancholie, sondern ein | |
geschickter Kunstgriff. | |
## Amateurhafte Privataufnahmen | |
Maria Juur entwickelt ihre Musik von der Theorie her. In ihrer Heimatstadt | |
Tallinn gehörte sie einer Feministengruppe an, in London studiert sie am | |
Goldsmith College Visual Culture. Der Feministin Hélène Cixous widmete sie | |
ihr erstes Album „Cabaret Cixous“. Ganz bewusst inszeniert sich die | |
Künstlerin als Maria Minerva mit einer naiven, unausgereiften Weiblichkeit. | |
In ihren Videos zeigt sie sich mit amateurhaften, vermeintlichen | |
Privataufnahmen. Sie tanzt mit offenem Haar und langsamen Hüftbewegungen | |
vor dem Spiegel oder verkleidet sich in der Allüre einer 12-Jährigen mit | |
Sonnenbrille und Lippenstift als erwachsene Dame. | |
Die porträtierende Maria Juur schafft das Porträt einer Maria Minerva, die | |
in der Unschuld der Adoleszenz ihre Weiblichkeit erkundet. Dass dabei ihre | |
Musik etwas Unausgereiftes hat, gehört zum Konzept. Maria Minervas Bedroom- | |
Sound ist übersteuert, voller Delay, unklar. Gegen die Erwartungen der | |
Musikkritik, auf ihr Debüt, ein besser produziertes Werk folgen zu lassen, | |
ist „Will Happiness Find Me“ undurchsichtig und experimentell ausgefallen. | |
Der Song „I Never Give Up“ ist ein schleppendes, nicht enden wollendes | |
Sounddelirium, in das Minerva die verzerrten Worte „I am born again“ | |
säuselt. Der Track „Coming of Age“ besteht aus scheinbar wahllos | |
aneinandergereihten Rhythmus- und Klangsequenzen. | |
Maria Minerva formuliert mit ihrer Kunst eine Version von Avantgarde, die | |
sich weit von dem Retro-Pop anderer weiblicher Solokünstlerinnen wie etwa | |
Nite Jewel entfernt. In ihrer Musik wirft sie wild mit Paradigmen um sich, | |
wenn sie etwa estnische und indische Folklore in einen Dance-Sound aus den | |
Neunzigern collagiert. Spätestens das Finale zeigt, wie ironisch, ja | |
schelmisch Maria Juur ihre Kunst behandelt: Über einem Loop aus Pat | |
Ballards Komposition „Mr. Sandman“, jener Melodie, die seit den Fünfzigern | |
als humoristischer Soundtrack die Filmgeschichte durchwandert, haucht sie | |
im Freestyle „The star is always out of place“. | |
Zu ernst sollte die Göttin im Schlafgemach also nicht genommen werden. In | |
ihr neues Album muss man unbedingt reinhören, selbst wenn man es nicht | |
ständig hören kann. | |
20 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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