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# taz.de -- Neues Album von Jason Grier: Herausforderungen unter der Dusche
> Auf seinem Label veröffentlicht der kalifornische Künstler Jason Grier
> Avantgarde-Pop. Nun erscheint sein Album „Unbekannte“. Ein Porträt.
Bild: Jason Grier in seiner Wahlheimat Berlin.
Vasari, der große Kunstgelehrte der Renaissance, war eigentlich selbst
Künstler und Architekt. Genoss er als Kritiker und Theoretiker großes
Ansehen, so wurde seine Kunst als zu trocken und ohne „Genius“ angesehen.
Jason Grier ist gewiss kein neuer Vasari. Aber er ist ein Kenner der Musik.
Seit einigen Jahren betreibt er das Label Human Ear Music für
anspruchsvollen Avantgarde-Pop. Mit zwei Soloprojekten, dem Album „Clouds“
von 2012 und dem neuen Album „Unbekannte“ hat er sich nun dieser
Angreifbarkeit hingegeben, die Vasari zeitlebens grämte, sein theoretisches
Wissen über Musik in künstlerische Formen zu bringen.
Aus einer Fülle von musikalischen und poetischen Referenzen hat Grier sein
Debütalbum „Clouds“ konzipiert. Brian Enos Ambientsound aus den Siebzigern,
R&B, oder ein mittelalterlicher Hoquetus – auf dem Album ein liebliches,
mit Julia Holter eingesungenes Duett – formte Grier zu einem minimalistisch
klaren Pop. Jetzt, ein Jahr später, schlägt Grier mit seinem zweiten Werk
„Unbekannte“ konzeptionell einen neuen Weg ein.
„Unbekannte“ zerfällt in eine weite Klanglandschaft. Noch greifbar beginnt
das Album mit einem warmen, repetitiven Chorus, doch zusehends läuft es in
mysteriöse Experimente über. Songstrukturen fehlen, dafür erklingen Poesie,
Feldaufnahmen, ja sogar Stille. Als „ewige Verschlaufung von Aporie und
Noesis“ bezeichnet Jason Grier selbst sein Werk.
Befreit von einer Dogmatik der Komposition, bewegt sich Grier in
„Unbekannte“ rund um einen Zustand von Ungewissheit. „Bei ’Clouds‘ wu…
ich vorab, wie ein Song aussehen würde“, sagt er im Gespräch, „für
’Unbekannte‘ habe ich hingegen Künstler ins Studio gebeten, um mit ihnen zu
improvisieren. Ein Album mit Field-Recordings gab die einzige Struktur.“
## Befreit von Kompositions-Dogmatik
„Unbekannte“ basiert auf Zufällen, Fehlern und Intuition. Stringent zieht
Grier das Konzept der Ungewissheit durch. Der erste Song ist ihm morgens
unter der Dusche eingefallen. Eine Melodie, derer er sich nicht mehr sicher
war, als er sie ein paar Stunden später aufnahm: „Baby I don’t know right
now / How it’s supposed to be for sure“, singt er schließlich über die
morgendliche Badezimmer-Routine.
Jason Grier kommt aus der bildenden Kunst. Geboren in Baltimore, studierte
er an der CalArts in Los Angeles. Sein musikalischer Ansatz innerhalb eines
Gerüsts aus historischen und zeitgenössischen Referenzen ist konzeptionell,
aber interdisziplinär frei. Bei der Produktion von „Unbekannte“ ließ er
sich von visuellen Eindrücken leiten: „Am Ende jedes Studiotages habe ich
mir alle Spuren gleichzeitig angehört.
Das war laut, hart, quälend, aber es kamen interessante Strukturen zum
Vorschein. Schaute ich mir die Soundspuren auf dem Display an, entstand
eine schöne Form, auch wenn sie nur zehn Sekunden zu sehen war. Ich habe
dann diese Sequenz als Loop abgespielt. Fast alle Songs habe ich so
konstruiert.“
Griers Anfänge in der Musik liegen in der Zeit an der CalArts: Gemeinsam
mit Ariel Marcus Rosenberg, besser bekannt als Ariel Pink, spielte er in
einer Band. Es war aber weniger das Musikmachen selbst als das Medium, das
ihn schließlich bei der Musik hielt. „Die Tragbarkeit von Musik, die
Möglichkeit, dass sie simultan wahrgenommen werden kann, begeistert mich.
Es ist die pure Wahrnehmung, die sich nicht mehr anhand eines Materials
messen lässt.“
Grier gründete sein eigenes Label Human Ear Music 2006 in Los Angeles.
Mittlerweile lebt er in Berlin. Spricht Grier über sein 1-Mann-Label, dann
greift er erneut auf die bildende Kunst zurück. Nicht als Label-Boss sieht
er sich, sondern als Kurator, der mit seiner Auswahl eine musikalische
Aussage treffen möchte. „Alle Künstler stehen mit ihrer Musik in der
Peripherie von etwas. Vielleicht arbeiten sie in mehreren Peripherien, aber
alle haben die gleiche Distanz zu einem künstlerischen Zentrum.“
Zwischen Experiment und Pop bewegen sich die Künstler auf Griers Label:
Ariel Pink, Julia Holter, Nite Jewel, Lucrecia Dalt, Ekkehard Ehlers und
Bruegel – „Künstler, zu denen ich langsam eine Beziehung aufgebaut habe.
Meist dauert es Jahre, bis wir gemeinsam entscheiden, ein Album zu machen.
Und jedes neue Album formt mein Label wieder neu.“
## Morphologie der Stile
Kürzlich veröffentlichte Grier eine Compilation mit remasterten Aufnahmen
seines seit 2006 angewachsenen Archivs. Unter dem schlichten Titel „Various
Artists“ zusammengefasst, verkündet er seine Vision einer zeitgenössischen
Avantgarde: Es ist ein 30-stündiges Mammutwerk, das Pop von John Maus oder
Maria Minerva mit Akademischem von Michael Pisaro verbindet. Es ist die
Studie einer Morphologie musikalischer Stile, denen sich Jason Grier
widmet, als Labelbetreiber und als Musiker. „Ich sitze in einer
musikalischen Landschaft, die im 13. Jahrhundert beginnt und bis nach L.A.,
Detroit oder Mexiko von heute reicht. Ich fühle die Notwendigkeit, all das
musikalisch zusammenzubringen.“
Musik, meint Grier, sollte schwierig sein, in ihr sollte so viel
Information wie möglich stecken. Die Informationen dann noch richtig zu
verbinden, ist eine Herausforderung. Selbstverständlich ist dann auch
Griers neues Album „Unbekannte“ eine Herausforderung.
18 Dec 2013
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Avantgarde
Pop
Los Angeles
Berlin
zeitgenössische Kunst
Julia Holter
Synthiepop
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Kalifornien
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