# taz.de -- Minimal-Music-Komponist: Vibrationen herauslassen | |
> Man hört mehr, als man sieht: Der in Berlin lebende US-Komponist Arnold | |
> Dreyblatt komponiert mit Instrumenten und ihren Schatten. | |
Bild: Spielt auf links außen: Arnold Dreyblatt. | |
MRT – mit diesem Kürzel verbinden die meisten Menschen unangenehme | |
Assoziationen. Wer schon einmal seinen Körper einer | |
Magnetresonanztomografie unterzogen hat, weiß Abschreckendes zu berichten. | |
Die Röhre, in die man bei diesem Verfahren gesteckt wird, ruft mitunter | |
phobische Reaktionen hervor. Und der Krach des Geräts ist vielen lästig. | |
Nicht so bei Arnold Dreyblatt. Als der US-Komponist vor einigen Jahren | |
krankheitsbedingt mehrere MRTs seines Gehirns erstellen lassen musste, fand | |
er die nebelhornartigen Klänge der Maschine so faszinierend, dass er eine | |
befreundete Radiologin dazu brachte, ihm die Aufzeichnung der Frequenzen zu | |
gestatten: „Ich habe das Gerät als eine Tesla-Spule gesehen, eine riesige | |
elektromagnetische Magnetspule mit Starkstrom, die harmonische Klänge | |
produziert“, so Dreyblatt. | |
Der MRT-Hersteller Siemens schien ähnlicher Ansicht, immerhin heißt der von | |
Dreyblatt verwendete Apparat „Magnetom Symphony Maestro Class“. Aus dem | |
Tonmaterial ging die Installationsarbeit „Turntable History“ hervor, die | |
Dreyblatt 2009 als gespenstisch hallendes MRT-Signalkonzert in einem | |
ehemaligen Berliner Wasserspeicher, der Singuhr-Hoergalerie, inszenierte | |
und später als Album veröffentlichte. | |
Dreyblatt, 1953 in New York geboren, gehört zur zweiten Generation der | |
Minimal Music. Studiert hat er unter anderem bei dem | |
Raumakustik-Spezialisten Alvin Lucier und dem Drone-Ekstatiker La Monte | |
Young. Aus seiner Lehrzeit bei Young stammt sein Interesse an harmonischen | |
Frequenzen. Dreyblatt entwickelte in den Siebzigern eine eigene Stimmung, | |
die er aus den Schwingungen der natürlichen Obertonreihe ableitete – den | |
Tönen, die im Grundton eines Instruments als höhere Frequenzen mitklingen | |
und so die Klangfarbe bestimmen. Sein Skalensystem mit 20 Tönen pro Oktave | |
benutzt er bis heute. | |
Fast durch Zufall entdeckte er das Verfahren, mit dem er die Obertöne aus | |
den Instrumenten herauskitzelt: „Das stammt aus einem Experiment in New | |
York, bei dem mir eine Saite meines Kontrabasses gerissen ist. Ich hatte | |
eine Art Werkstatt mit Draht und habe einfach eine Klaviersaite aufgezogen, | |
um zu sehen, was passiert. Ich habe dann eine unglaubliche Resonanz | |
gehört.“ | |
## Klaviersaiten auf Kontrabass | |
Dreyblatt bespannte seinen Kontrabass darauf vollständig mit dünnen | |
Klaviersaiten. Diese Drähte, die anders als herkömmliche Basssaiten keine | |
Ummantelung haben, bringt er mit einer Technik zum Schwingen, bei der er | |
mit dem Bogen gleichzeitig streicht und schlägt. „Excited strings“ nennt er | |
diese Spielweise, ein Wortspiel mit der Mehrdeutigkeit von „excite“, das | |
sowohl „aufregen“ als auch „in Schwingung versetzen“ bedeuten kann. | |
Ende der Siebziger gründete er in New York das Orchestra of Excited | |
Strings, ein Ensemble von der Größe einer Rockband. „Meine Musik ist zu | |
Hause im kleinen Bandformat“, so Dreyblatt. Der Klang hingegen ist merklich | |
voller: „Wenn alle Instrumente so viele Obertöne erzeugen, dann hört man | |
zusammen mehr als nur die vorhandenen Instrumente. Es gibt so eine Art | |
optischen Effekt, dass man Instrumente oder Schatten von Instrumenten hört, | |
die gar nicht da sind.“ | |
Dreyblatts Musik hat oft einen durchgehenden Puls, es ist ein rhythmischer | |
Drone, der sich weniger um komplexe Formen oder spieltechnische | |
Schwierigkeit als um ein dichtes Klangspektrum bemüht. Für ihn entspringt | |
diese scheinbar dilettantische Art zu musizieren einer philosophischen | |
Haltung: „Als Spieler besteht unsere Aufgabe nicht darin, als Virtuose zu | |
zeigen, wie wir das Instrument unter unseren Willen zwingen können, sondern | |
wir sind dazu da, die Vibration, die schon im Instrument ist, loszulassen.“ | |
Als Musiker müsse man sich fragen: „Was machen wir da mit unseren | |
Instrumenten? Zeigen wir uns selbst, unser Ego oder zeigen wir, was in dem | |
Instrument ist?“ | |
## Am liebsten in Clubs | |
Neben seiner Arbeit als Komponist arbeitet Dreyblatt, der seit dreißig | |
Jahren in Berlin lebt, als bildender Künstler, hat eine Professur an der | |
Muthesius Kunsthochschule Kiel und ist seit 2007 Mitglied der Akademie der | |
Künste Berlin. Dass Dreyblatt seinen musikalischen Ansatz nach wie vor | |
verfolgt und sich nicht vollständig auf seine Karriere als bildender | |
Künstler konzentriert hat, ist vor allem der Initiative jüngerer Musiker zu | |
verdanken, die ihn in regelmäßigen Abständen für sich entdecken. Wie | |
Dreyblatts Berliner Mitstreiter Jörg Hiller: Der 1977 geborene Komponist | |
und Produzent veröffentlicht im April auf seinem Label Choose Records eine | |
retrospektive Auswahl von Liveaufnahmen aus Dreyblatts Archiv. | |
Zuvor war es der US-amerikanische Experimentalmusiker Jim O’Rourke gewesen, | |
der Dreyblatt 1995 zu dessen großer Überraschung ansprach, um das | |
inzwischen klassische Album „Nodal Excitation“ aus dem Jahr 1982 wieder | |
aufzulegen. Wenig später fand sich Dreyblatt zu einem Konzert in Chicago | |
wieder, wo er sich erneut wundern musste: „Es war still im Club, die Leute | |
haben zugehört. Ich merkte, da ist etwas los.“ In New York sei das Publikum | |
nie so aufmerksam gewesen. | |
Dreyblatts Erklärung: Mittlerweile gebe es eine Generation von Hörern, die | |
mit Ambient und Techno groß geworden seien und keine Songs mehr brauchen, | |
sondern nur noch Klang. „Auch in der Punkszene brauchte man eine bestimmte | |
Form. Und plötzlich brauchte man das auch nicht mehr.“ Das Erlebnis in | |
Chicago habe ihn damals inspiriert, mit der Musik weiterzumachen. Und heute | |
etwa im Berliner Berghain oder im April im Hamburger Golden Pudel Club | |
aufzutreten, denn: „Die Musik funktioniert am besten im Club, wenn die | |
Leute stehen. | |
20 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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