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# taz.de -- Pop von Julia Holter: Das Motorrad ist Konzept
> Die kalifornische Künstlerin Julia Holter fördert für ihr Album „Have You
> In My Wilderness“ eine Dreampop-Welt in Balladenform zutage.
Bild: So mancher Popsong macht einen Tunnelblick erforderlich: Julia Holter.
„Golddame, du würdest wundervoll in meine Wildnis passen / in deinen
Gewässern ging ich vor Anker.“ Überträgt man Julia Holters Texte ins
Deutsche tritt ihr Hang zur großen Geste noch mehr hervor. Der
US-Künstlerin ist Pathos – textlich wie musikalisch – keineswegs fremd. Das
gilt auch für ihr neues Album „Have You In My Wilderness“. Aus dessen
titelgebenden Song stammt obige Zeile: „Lady of gold, you would fit
beautiful in my wilderness / In your waters I’ve dropped anchor“.
Trotzdem unterscheidet sich „Have You In My Wilderness“ in zwei
wesentlichen Punkten von seinen Vorgängern: Erstens gibt es keine
übergeordnete Erzählung, die das ganze Werk zusammenhält. Zweitens – so
erzählt es Holter zumindest – ist das Album weniger aus der Verarbeitung
von äußeren Quellen entstanden, als aus dem Inneren der Künstlerin. Gerade
das hatte Holters Œuvre neben dem Sound ihrer experimentellen Songs von
anderen Produktionen unterschieden.
„Tragedy“, ihr Debüt von 2011, war die Verarbeitung eines antiken
Theaterstücks von Euripides. Darauf folgte „Ekstasis“, das als Bearbeitung
literarischer Zitate aus vielfältigen Quellen – darunter Virginia Woolf und
Frank O’Hara – angelegt war. Zuletzt erschien 2013 ihr Album „Loud City
Song“. Wiederum hatte Holter eine zentrale Inspirationsquelle gewählt:
Colettes Roman „Gigi“ und dessen Musicalbearbeitung.
Für „Have You In My Wilderness“ wendet sich Holter nun der großen Fiktion
von Popmusik zu: dass es in ihren Songs um glaubwürdige Gefühle ginge. Aber
Holter wäre nicht Holter, wenn diese Entscheidung die Konsequenz hätte,
dass nur noch „you“, „me“ und „love“ Gegenstand sind: „Lady of go…
would fit beautiful in my wilderness“ – bewegt sich dann doch auf einer
Metaebene.
## Im Bewusstseinsstrom
Mit großer, aber auch mit kleiner Geste, singend, aber auch in
Spoken-Word-Passagen lässt Holter einen surrealen Bewusstseinsstrom
ablaufen. Darin tummeln sich Frauenfiguren von Sally über Lucette und
Betsy, denen die Stimme der Erzählerin in einem mystischen Naturuniversum
voll Licht irgendwo in der Nähe von Mexiko City begegnet. Natürlich: Es
geht auch um Liebe, Vertrauen und Macht.
Aber Holters lyrisches Geflecht ist vielschichtig; immer wieder
thematisiert sie die Unsicherheit über ihre Wahrnehmung. Es ist dann auch
kein Widerspruch, wenn in besagter Naturinszenierung ein Motorrad knattert,
sondern ein Bruch zur rechten Zeit. In Holters Klanguniversum sind
Übergänge fließend und Widersprüche keine Widersprüche. Sie ist weit
entfernt von Authentizitätszwang und sogenannten echten Gefühlen.
Bestimmende Form ist die Ballade. Holters Wahl wird von einer wichtigen
produktionstechnischen Entscheidung begleitet: Im Gegensatz zu manchen
Passagen der Vorgängeralben ist auf „Have You In My Wilderness“ Holters
Stimme ins Zentrum gerückt. So zögerlich, schimmernd und halb bewusst sie
manchmal klingen mag, immer ist Holter deutlich zu vernehmen.
Für die musikalische Begleitung hat die 30-Jährige auf bewährte Akteure aus
Los Angeles zurückgegriffen, die in ähnlicher Kombination schon für „Loud
City Song“ im Einsatz waren. Meistens hört sich das an, als hätte man einer
Jazz-Combo gesagt, sie solle Dream Pop spielen: Synthiesounds wabern, immer
präzise arrangiert und von der Rhythmussektion mit Tendenz zum Groove
begleitet.
Dies gibt dem Album eine warme Textur, auch wenn sich die Texte in düstere
Welten begeben. „Have You In My Wilderness“ ist in Sound wie Thema das
popaffinste Album, das Holter bisher veröffentlicht hat. Am meisten
begeistert „Lucette Stranded on the Island“: Von einem metallischen
Klingeln und Holters ätherischer Stimme aus baut sich der Song effektvoll
auf, Synthesizer, Klavier und Streicher treffen auf verschiedene
Nebengeräusche, die dem Song Tiefe geben. Schleppende Drums begleiten ihren
Gesang.
## Geschickt moduliert
Von Holter geschickt moduliert, changiert er stets zwischen Singen und
Sprechen, um sich schließlich für einen Kompromiss zu entscheiden: Holter
spricht einen längeren Text, während sie von der wie einen Chorus
wiederholten Zeile „The birds can sing a song“ begleitet wird. Mit sechs
Minuten Dauer stellt „Lucette Strandes on the Island“ einen Gegensatz zu
radiotauglicheren Songs wie „Sea Calls Me Home“ dar.
Dass Holters neues Album nach Pop klingt, die Künstlerin nun weniger
konzeptuell vorgegangen ist, heißt also nicht, dass man sie demnächst neben
Katy Perry und Konsortinnen einordnen muss. Sondern immer noch zwischen
Laurie Anderson und Joanna Newsom. Vor allem so lange sie Zeilen singt wie:
„Lady of gold, you would fit beautiful in my wilderness / In your waters
I’ve dropped anchor.“
24 Sep 2015
## AUTOREN
Elias Kreuzmair
## TAGS
Julia Holter
Indiepop
Popmusik
Mogwai
Björk
Kalifornien
Avantgarde
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