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# taz.de -- Neues Album von Julia Holter: Stimmengewirr der Gegenwart
> Vom Mittelalter lernen: Die kalifornische Künstlerin Julia Holter preist
> auf „Aviary“ die Empathie und geißelt die ständige Zweckorientierung.
Bild: „Ich hatte genug von Sinn und Bedeutungsschwere“: Julia Holter
„Alle haben Angst“, sagt Julia Holter. Die Musikerin zählt die allzu
bekannten Entwicklungen jüngerer Zeit auf: die Spaltung der
US-Gesellschaft, die der zeternde und twitternde Präsident Donald Trump
forciert. Und weiter: Brexit, Flüchtlingskrise, Klimawandel.
All die Push-Nachrichten auf dem Smartphone, die in Windeseile von jeder
Mikroentwicklung, von jeder kleinsten Entscheidung berichten: Was ist denn
nun schon wieder los? Und was dann? Kleine Eruptionen der Angst, die aus
dem Stimmengewirr der Gegenwart entstehen: „Es ist schwer, zu
funktionieren, es überwältigt einen“, sagt Holter. Die Stimmen der anderen
werden zu Stimmen im eigenen Kopf.
Was tun mit der, wie Holter sie etwas pathetisch nennt, „Kakofonie des
Geistes in einer zugrunde gehenden Welt“? Die kalifornische Künstlerin hat
sich für ihr neues Album „Aviary“ auf das besonnen, was Musik ausmacht. Als
Expertin für Klang und Stimme hat sie einen Umgang mit der Gegenwart
gefunden, der die bedrohliche Dimension erst einmal ausblendet: „Ich hatte
genug von Sinn und Bedeutungsschwere. Ich habe einfach mit dem Klang
gespielt.“
„Aviary“ nimmt die Impulse der Gegenwart auf und erforscht die
Produktivität des Stimmengewirrs. Holter versucht eine Übersetzung der Welt
in Musik, die schon in ihren Verfahren aufzeigt, was fehlt: Empathie für
die andere und den anderen.
## Präzise und komplex arrangiert
„Aviary“, das wird schnell deutlich, entstammt dem Universum von Julia
Holter. Das Album fügt sich gut in die Reihe an Werken, die ihm
vorangingen: Präzise und komplex arrangierte Ebenen unterschiedlichster
Instrumente zwischen Bass, Dudelsack und Harfe, eine schwebende Atmosphäre
– und vor allem die sphärische Stimme der US-Musikerin. Es ist ihr sechstes
Album in sieben Jahren – die 33-Jährige ist sehr produktiv.
Um in diesen Zustand zu gelangen, stellt sie sich immer wieder neue
Aufgaben, um Musik zu erschaffen. Das Live-Album „In the Same Room“ von
2017 einmal ausgenommen, sind alle Holter-Alben jeweils
Auseinandersetzungen mit bestimmten künstlerischen Formen. Holters Debüt
„Tragedy“ aus dem Jahr 2011 widmete sich der antiken Tragödie.
Im folgenden Jahr veröffentlichte sie „Ekstasis“, das sich vor allem auf
Texte der literarischen Moderne bezog. „Loud City Song“, das vierte Album
(2013), bearbeitete die Form des Musicals. 2015 stellte sich Holter dann
mit „Have You in My Wilderness“ der Form der Ballade und produzierte
überraschend eingängige Popsongs.
Die reflektierte Herangehensweise kommt nicht von ungefähr – Holter hat
Komposition studiert. Sie ist jedoch bei allem Nachdenken weit davon
entfernt, verkopfte Konzeptalben zu produzieren. Der Rückgriff auf ältere
künstlerische Formen erfolgt immer aus einem Interesse an der Gegenwart.
„Aviary“, deutsch Voliere, ruft das Schnattern und Zwitschern von Vögeln
auf. Wie oft bei Holter liegt dieser Gestaltungsidee eine literarische
Referenz zugrunde. Und zwar ist es eine Kurzgeschichte der
libanesisch-amerikanischen Schriftstellerin Etel Adnan, welche mit den
Worten beginnt: „I found myself in an aviary full of shrieking birds.“
## Der Sonne entgegen
Holter übersetzt die Kakofonie unserer Zeit zum Auftakt von „Aviary“
unmittelbar in Musik. Die nervös durcheinandergehenden Klänge von
Schlagwerk, Streichinstrumenten und Klavier sind einerseits eine Referenz
an das Stimmen der Instrumente eines Orchesters vor dem Konzert; eine
musikalische Inszenierung, die durchaus zum Auftakt eines Albums passt.
Andererseits sind diese Töne der musikalische Verweis auf das Stimmengewirr
der Gegenwart. Auf dieses Getöse richtet das erste Stück „Turn the Light
On“ den Spot.
Viele der Texte auf Holters Album wirken wie Bewusstseinsströme. Der
Eindruck täuscht jedoch. Die Künstlerin bedient sich bei den
verschiedensten Quellen der westlichen Kulturgeschichte. Sie eignet sich
von der Sappho-Übersetzung bis zum Troubadour-Lied aus dem 12. Jahrhundert
Songlyrik aus mehr als zweitausend Jahren an.
Aus Bernart de Ventadorns „Can vei la lauzeta mover / De joi sas alas
contral rai“ – etwa: „Wenn ich die Lerche ihre Flügel freudvoll der Sonne
entgegenschwingen sehe“ – wird in Holters Song „Chaitius“: „See mo co…
ray / to you / I feel so alove / Joi! / I can’t wait / En sai butter mo cor
/ eu you / Lauzeta, sweet in the melting world“. Was Holter macht, kann man
onomatopoetische Übersetzung nennen.
Sie orientiert sich nicht an der Bedeutung der Wörter, sondern an ihrem
Klang. Begleitet wird Holters Rezitation – sie spricht oft mehr, als sie
singt –, zunächst nur von Streichern, später von klug eingesetzten
Basstönen und vorsichtigen Schlägen. Die Stimme – singend, sprechend und
gesampelt –, Streicher und die gezielt eingesetzte Rhythmussektion bilden
die Basis der Musik.
## Zeitgemäße Kritik des Spätkapitalismus
Auf die Aneignung fremder Texte in fremden Sprachen wird in „Colligere“
angespielt, Lateinisch für „zusammensammeln“. Holter hat es aus der
klassischen Studie „The Book of Memory“ von der Mediävistin Mary Carruthers
entliehen. Das Besondere am mittelalterlichen „colligere“: „Es ist kein
zielorientiertes Sammeln. Ich habe einfach Stimmen gesammelt.“
Holter hat sich Stimmen ausgeliehen, die sie so beeindruckt haben, dass sie
ihr im Gedächtnis geblieben sind. Dass sie dabei – siehe Troubadourengesang
– häufig im Mittelalter landet, liegt an ihrer Faszination für jene Epoche.
Man kann diese Referenz aber auch als Statement gegen Effizienzimperative
verstehen: „Was mich im Kontext von ‚Aviary‘ am Mittelalter interessiert
hat, war, dass ich mir es als eine Zeit vorstelle, die nicht so ziel- und
zweckorientiert war wie heute.“
Es ist eine ungewöhnliche Interpretation, vor allem, wenn man bedenkt, dass
die zeitgenössische Mittelalterrezeption eher von Gedanken an eine dunkle
Zeit voller Machtkämpfe und religiös motivierter Gewalt durchzogen wird.
Der Mittelalterbezug ist aber auch Teil der Wirkungsabsicht, die „Aviary“
erzielen soll. Wie einst Marcel Proust wünscht sich nun auch Julia Holter,
dass ihr Werk wie eine gotische Kathedrale bestaunt wird: „Ich wollte ein
Gefühl der Ehrfurcht erzeugen, das ich selbst beim Betrachten von
mittelalterlichen Kunstwerken erlebe.“
Dieser Wunsch darf nicht missverstanden werden. „Aviary“ zielt nicht auf
einen historischen Eskapismus, sondern auf eine zeitgemäße Kritik des
Spätkapitalismus, die sich nicht in Parolen erschöpft. Mit den Mitteln von
Musik erschafft Holter ein Kunstwerk, dessen Formen und Verfahren sich von
denen des Spätkapitalismus absetzen.
„Aviary“ ist eine Übersetzung der Welt im mehrfachen Sinn. Letztlich auch,
weil das Album die Zuhörer*innen aus der Kakofonie der Gegenwart überführt
in eine andere Welt. In dieser anderen Welt sind Übersetzung und Zitat
keine Verfahren der Aneignung, sondern ein Mittel der Ehrerbietung.
Holter erklärt den Horizont dieser Strategie mit einer Referenz, dieses Mal
nicht auf das Mittelalter, sondern auf die jüngere Vergangenheit: „Es geht
um die Frage, wie Empathie möglich ist. Um ein universelleres Gefühl der
Liebe – wie in einem Beatles-Song.“ Der letzte Song auf „Aviary“ heißt…
Shall Love 1“.
20 Oct 2018
## AUTOREN
Elias Kreuzmair
## TAGS
Popmusik
Los Angeles
Julia Holter
Mittelalter
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