# taz.de -- Futuristische Elektrobeats: Von der Schöpfung der Mutanten | |
> Was für ein Gesamtkunstwerk: Der venezolanische Produzent Arca und sein | |
> mäanderndes neues Elektronik-Album „Mutant“. | |
Bild: Hat schon etwas von einem Mutanten: Ausschnitt aus dem Plattencover von A… | |
Von Haydns „Schöpfung“ bis Genesis: Irgendwie scheint die Frage nach dem | |
Werden des Gewordenen auf den Britischen Inseln in der Luft zu liegen. | |
Schließlich ließ sich Joseph Haydn bei seinen Englandreisen zu seinem | |
wichtigsten Werk, „Die Schöpfung“, inspirieren, und die sinfonischen | |
Softrocker stammen aus einem beschaulichen Städtchen im Süden des | |
Vereinigten Königreichs. | |
Es ist also kein Wunder, dass Arca, venezolanischer Produzent mit Wohnsitz | |
im Londoner Stadtteil Dalston, mit seinem neuen Album, „Mutant“, eine ganz | |
spezielle Version jener Schöpfungsgeschichte vorgelegt hat. Allerdings hat | |
sie mit den religiösen Assoziationen dieses Wortes anscheinend nicht mehr | |
viel zu tun. Es bleibt auch im Dunkeln, was genau es mit dem titelgebenden | |
Wesen „Mutant“, das mit Presslufthammerschlägen aus TripHop und HipHop | |
geschaffen wird, auf sich hat. | |
Man sollte sich von diesen musikalischen Kategorien nicht in die Irre | |
führen lassen: „Mutant“ erschöpft sich nicht in alten Musikmustern und | |
Formensprachen. Mal hört sich Arcas Sound melancholisch wie ein Track von | |
The Notwist an, dann wieder fast wie ein Boom-Bap-Beat. Oft gehen die | |
Tracks mit voller Geschwindigkeit voraus, um dann eine Vollbremsung | |
hinzulegen, die Stilrichtung zu wechseln – oder einfach ganz abzubrechen. | |
Alejandro Gehrsi, so Arcas bürgerlicher Name, ist sich also treu geblieben. | |
Nur sich selbst verpflichtet zu sein ist die grundlegende Maßgabe seiner | |
künstlerischen Produktion. Dieser Eigensinn hat ihn weit gebracht: Arca hat | |
nicht nur die Ausnahmekünstlerin Björk bei den Aufnahmen zu ihrem letzten | |
Album, „Vulnicura“, im Studio unterstützt, sondern mit dem Album der | |
Londonerin FKA Twigs auch das Debüt einer der spannendsten Newcomerinnen | |
des vergangenen Jahres produziert. Außerdem war Arca an „Yeezus“ beteiligt | |
– dem aktuellen Album des US-HipHop-Stars Kanye West. | |
## Zusammenarbeit mit Kanye West | |
Die Legende besagt, dass Arca den Produzentenjob für West nur bekam, weil | |
er auf Anfrage hin Tracks schickte, die er für seine krudesten Produktionen | |
hielt. West war rückhaltlos begeistert und lud den Venezolaner sofort ein. | |
Es ist kein Zufall, dass Gehrsi, Jahrgang 1990, gerade durch | |
Kollaborationen bekannt geworden ist. Gegenseitige Inspiration und | |
Unterstützung kennzeichnet auch sein sonstiges Schaffen. Am wichtigsten ist | |
in dieser Hinsicht der bildende Künstler Jesse Kanda. Kanda und Gehrsi | |
lernten sich als Jugendliche über eine Onlinekunstcommunity kennen. Seither | |
stehen sie im Austausch über ihre künstlerischen Projekte – und wohnen | |
inzwischen sogar zusammen. | |
Auch für „Mutant“ hat Kanda das Artwork entworfen. Auf dem Cover ist ein | |
unförmiges, teuflisch wirkendes Wesen zu sehen. Es hat zwei riesige | |
schwarze, zopfartige Hörner, die rechts und links aus seinem Kopf wachsen. | |
Sein roter Körper wird nach unten immer breiter, sodass die Form einem | |
Kegel gleicht. In Kandas Werk wimmelt es vor solchen unheimlichen Wesen, | |
die die Grenzen menschlicher Formen ausloten. Diese Wesen stehen auch im | |
Zentrum vieler Arca-Videos. | |
„Mutant“ ist Arcas zweites Album nach dem 2014 erschienenen Debüt „Xen�… | |
2013 und 2015 hat er zudem noch jeweils ein „Mixtape“ veröffentlicht. Diese | |
Produktivität ist darauf zurückzuführen, dass Arca weiß, was er will. Man | |
glaubt das auch auf „Mutant“ zu hören: Der Sound hat etwas von einer | |
manischen Suche, ein unbedingter Wille, vorwärtszukommen, trägt ihn. Dabei | |
klingt das Material unfertig, widersprüchlich, stellenweise aggressiv. Das | |
spiegelt sich auch in der Länge der Tracks wider: Zwischen 44 Sekunden und | |
7 Minuten dauern die 20 Skizzen. | |
## Wilde Geburt eines unförmigen Wesens | |
Die ersten beiden Tracks, „Alive“ und „Mutant“, erzählen von der wilden | |
Geburt des unförmigen Wesens. Danach wird es ruhiger, melancholisch, | |
verstimmte Pianomelodien herrschen vor, etwa bei „Snakes“ und „Else“. | |
Später scheint dieses Wesen in einer düsteren Industrialwelt gefangen, in | |
der mit Bassschlägen und Sequenzer-Gewittern an seiner Ausformung | |
gearbeitet wird. Eine feine Differenzierung von Arcas Musik ist beim Hören | |
kaum möglich: Meist gehen seine Tracks ineinander über, als würde mit | |
„Mutant“ eine zusammenhängende Geschichte erzählt. | |
Das Album entfaltet seine Stärke daher, wenn man es als Erzählung am Stück | |
hört. Einzeln sind die Tracks zu skizzenhaft. Als musikalische Inszenierung | |
einer Mutantenschöpfung ist das Album aber eindrucksvoll. Und was passiert | |
am Ende? Die TripHop-Elemente werden wieder stärker. Als sei die stürmische | |
Jugend von „Mutant“ irgendwann überstanden. Es rumpelt, die Sounds kommen | |
nicht mehr in Fluss. | |
„Peonnies“ heißt das Finale. Ein englischer Slangausdruck für das weiblic… | |
Geschlechtsteil – für die sexuelle Initiation des Mutanten also. Genauso | |
kann das Wort auch „Pfingstrose“ bedeuten, ein Symbol der | |
Wiederauferstehung. Ohne die Abstecher ins Religiöse ist die | |
Schöpfungsgeschichte wohl doch nicht zu haben. Es besteht also Hoffnung, | |
dass Arcas Reise mit den Mutanten noch nicht zu Ende ist. | |
26 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Elias Kreuzmair | |
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