# taz.de -- Neue Musik von Nite Jewel und Co.: Der Blick zurück nach vorn | |
> Vier neue Alben: Breitwand-Synthesizer, LoFi-Effekthascherei, | |
> Spirituelles Dub-Soulsearching im Takt des Rootsreggae und | |
> radikalisierter Eisflächenpop. | |
Bild: Die Kolumbianerin Lucrecia Dalt: Weniger ist mehr. | |
Erinnerung, bemerkte die Filmwissenschaftlerin Sylvia Harvey einmal, | |
beginnt mit einem Moment der Stille. Dieses Gedenken ist von zwei | |
unterschiedlichen Gefühlen überlagert. In dem einen stellen wir uns ganz | |
bewusst der Vergangenheit, um darin gefangen zu bleiben; eine Flucht aus | |
der Gegenwart, umnebelt von Sentimentalität. In dem anderen beschäftigen | |
wir uns mit der Vergangenheit aus analytischen Gründen, nehmen sie | |
auseinander, um so eine hoffnungsvollere Zukunft zu konstruieren. | |
Beides ist im Zusammenhang mit Popmusik von Bedeutung. Ersichtlich auch an | |
den visionären Popalben dieser Saison. Alle atmen sie ein Stück | |
Vergangenheit, ohne in Sentimentalität abzugleiten, und genau deshalb | |
weisen sie auch nach vorn: Die Musik von Lucrecia Dalt, Sebastien Tellier, | |
Sun Araw & M. Geddes Gengras meet the Congos und Nite Jewel hat gemeinsam, | |
dass die Künstler retro als künstlerisches Mittel gegen die | |
Aktualitätsfixierung und Authentizitätsfixierung des Mainstream einsetzen. | |
„Der Dispositionsspielraum der Geschichte wird von den Menschen bestimmt“, | |
wie es der Geschichtsphilosoph Reinhart Koselleck einmal formulierte. Er | |
sprach damit auf eine Arbeitsteilung zwischen handelnden Akteuren an, die | |
Geschichte gemacht haben, und denjenigen, die dieser Geschichte später | |
nachfühlen, um beiden „unbegrenzte Entscheidungsfreiheit“ zu konstatieren. | |
Im Pop ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit Makeln | |
behaftet. Seit der britische Musikkritiker Simon Reynolds vergangenes Jahr | |
seine Studie „Retromania“ veröffentlicht hat, will die Debatte über die | |
zerstörerischen Folgen der Rückwärtsgewandtheit nicht mehr verstummen. Ist | |
Pop wirklich nur zeitgemäß, wenn er an der Oberfläche der Gegenwart bleibt? | |
Popmusik hat doch nie völlig mit der Vergangenheit gebrochen, sie hat immer | |
aus der Geschichte gelernt und herrschende Strömungen umschifft. Und sei | |
es, dass sich beim Imitieren von Helden irgendwann eigene Kunstformen | |
herauskristallisieren. | |
## Die Suche nach den Wurzeln | |
Greil Marcus hat dies in einem ausführlichen, von Simon Reynolds geführten | |
Interview für die L. A. Review of Books thematisiert. Der US-Kulturkritiker | |
erinnerte darin an die Wiederentdeckung des 1938 gestorbenen Bluessängers | |
Robert Johnson in den sechziger Jahren und den daraus resultierenden Boom | |
der Folkmusik. Diese Suche nach den Wurzeln, so Marcus, habe mit dem | |
„Erwachsenwerden“ des Pop zu tun gehabt. In den Sechzigern wurde Marcus’ | |
Wurzelsuche von Älteren stets mit der Bemerkung quittiert, er würde sowieso | |
bald zu alt dafür sein. Dem war nicht so. Er ist zum Glück daran gewachsen. | |
Pop hat seinen Platz im medialen Mainstream inzwischen erkämpft, aus | |
Gründen der besseren Publicity findet er nur Erwähnung, wenn er Nachschub | |
an neuen Gesichtern liefert. Oder die Jubiläumskultur bedient. Zwischen | |
Justin Bieber und 50 Jahre Rolling Stones ist wenig Spielraum. | |
Wie man diese Schieflage sinnvoll umgeht, zeigt etwa der Pariser Musiker | |
Sebastien Tellier, der sich auf seinem neuen Album „My God is blue“ als | |
Heiland mit Wallehaar und Jesusbart inszeniert. Es habe ihn gereizt, etwas | |
zu inszenieren, was es womöglich gar nicht gibt, erklärt Tellier zu seiner | |
Aufmachung. Im Himmel platziert man sich damit sicher auf Platz eins. | |
Auf Erden bleibt Tellier ein komischer Heiliger zur falschen Zeit, der sich | |
den Breitwand-Synthesizern der Filmmusik der siebziger Jahre verschrieben | |
hat und die Aschenbecherstimme des französischen Nationalhelden Serge | |
Gainsbourg beängstigend nachahmt. | |
Erst ist man darüber entsetzt, aber irgendwann fällt der Groschen und man | |
gewöhnt sich an diese unbehagliche Beschallung. Und dann beginnt das | |
Nachdenken über Telliers Disneyfizierung christlicher Heilsvorstellungen, | |
die dank eines rhythmusgetriebenen Klangbilds des Houseproduzenten Mr. | |
Flash knietief im Club, der Kathedrale von heute, platziert sind. | |
„Wenn sich ein Song für mich richtig anfühlt, beruht er auf einem Déjà-vu. | |
Ich denke dann immer, ich habe ihn schon mal gehört, genau deshalb | |
überträgt sich seine Resonanz“, sagt Ramona Gonzalez. Ihr neues unter dem | |
Künstlernamen Nite Jewel entstandenes Album „Once Second of Love“ beginnt | |
mit der gesungenen Textzeile „I’m a broken record, you’ve heard this | |
before“. | |
## Imaginierte Vergangenheit | |
Die kalifornische Musikerin spricht im Interview von einer imaginierten | |
Vergangenheit. „Eine Phase der Popgeschichte, nach der ich mich sehne, ohne | |
genau zu wissen, wer oder was damit gemeint sein könnte. In meiner Fantasie | |
erschaffe ich kühnere Sounds als die, die in der Gegenwart zu haben sind.“ | |
„One Second of Love“ huldigt nicht etwa dem Synthiepop der achtziger Jahre, | |
es radikalisiert ihn zu einer blitzblank gewienerten, aus | |
Keyboard-Oszillatoren und prähistorischen Drummaschinen bestehenden | |
Eisfläche, auf der Nite Jewels Stimme seelenruhig ihre Pirouetten dreht. | |
Fast schon unheimlich in seiner Konsequenz. „Ein Klavier klingt mir viel zu | |
naturalistisch. Analoge Synthese fasziniert mich dagegen“, sagt Gonzalez. | |
„Die Klänge von Oszillatoren und analoger Hardware sind der exakte Ausdruck | |
dessen, wie mein Gehirn auf Musik reagiert. Simplizität, verbunden mit | |
Technologie, Zukunftsprimitivät.“ Die Antithese zu ihrer rasanten | |
Produktivität ist das gemächliche Tempo ihrer Musik, jeder Synthesizerton | |
wird gehalten, jede Gesangssilbe sirupartig gedehnt. „Mühselige | |
Konversationen, Slowfood und langsamer Sex liegen mir einfach mehr“, | |
erklärt Nite Jewel. | |
Die beiden kalifornischen Musiker Sun Araw und M. Geddas Gengras haben | |
dagegen die direkte Begegnung mit der Vergangenheit gesucht und mit „Icon | |
give Thank“ eine Kollaboration mit dem jamaikanischen Gesangsquartett The | |
Congos veröffentlicht. Sie wurden zur Legende, als sie 1976 zusammen mit | |
Lee „Scratch“ Perry, „Heart of the Congos“ eingespielt haben, den heili… | |
Gral der Rastafari-Bewegung. Spirituelles Soulsearching im Takt des | |
Rootsreggae, schwindlig produziert in den Echokammern des Dub. | |
## Neopsychdelische Gitarrenloops | |
Ehrfurcht haben Sun Araw und Geddas Gengras vor ihren Helden nicht. Denn | |
erst mal mussten sie zu einer Form der Verständigung finden. Und das ist | |
das eigentlich Spannende an „Icon give Thank“, das Aufeinanderprallen | |
unterschiedlicher Produktionsweisen und Weltsichten. So entwickelt sich ein | |
Cultureclash, hier neopsychdelische Gitarrenloops und Laptop-Gefrickel, | |
dort die Gesangsharmonien und spirituellen Einsichten, die nicht immer | |
zusammenfinden. | |
Dem Album beigelegt ist eine DVD mit einem Dokfilm, der Proben und | |
Aufnahmen zeigt und die beiden US-Musiker, die versuchen, sich im | |
jamaikanischen Hinterland zurechtzufinden. „Unser ursprünglicher Plan ist | |
nicht aufgegangen“, erklärt Gengras darin, „die Musik mussten wir | |
situationsbedingt entwickeln.“ Reggaefundamentalisten hassen „Icon give | |
Thank“, zukunftszugewandte Nostalgiker werden die Klangkollisionen dagegen | |
lieben. | |
Dass man sich mit Geschichte auch gezielt von der eigenen Herkunft lösen | |
kann, beweist die Kolumbianerin Lucrecia Dalt. „Commotus“ ist das zweite | |
Album der in Barcelona lebenden Musikerin betitelt, die damit dem | |
LoFi-Homerecording-Ethos der Neunziger-Jahre-Indietronics frönt: Weniger | |
ist mehr. Weniger aus rein ästhetischen Gründen, mehr aus einer | |
ökonomischen Notwendigkeit heraus. | |
## Fußpedale und Touchscreen | |
Die Bassistin hat ihre Instrument mit Effektgeräten verschaltet. Mit | |
Fußpedalen loopt sie damit ihre Bassmelodien und hat außerdem einen | |
Touchscreen um ihre Hüfte geschnallt mit einer Datenbank voller Samples und | |
Synthesizer. Ihr Gesang ist spärlich, instrumentale Passagen übernehmen die | |
Hauptrolle und arbeiten sehr umsichtig die kahle Schönheit ihres Basses | |
heraus. Dalt hat erklärt, sie stellt sich beim Musikmachen Landschaften | |
vor. Vielleicht die auf dem Cover von „Commotus“ abgebildete Fotografie | |
eines Wirbelsturms, der in Texas aufgenommen wurde, zur Zeit der großen | |
Depression. | |
Dalts Heimatstadt Medellín hat andere Probleme. Ihr Song „Escopolamina“ | |
beschreibt die Wirkung einer Droge, die in Kolumbien Menschen verabreicht | |
wird, um sie zu betäuben und auszurauben. Lucrecia Dalts Musik klingt wie | |
der Versuch, den Abgründen ihrer Geschichte zu entkommen. Sie ist | |
traumverloren, sanft, melancholisch, und trotzdem schwingt die | |
Vergangenheit immer mit. „Wer sich im Alltag von geschichtlicher Zeit eine | |
Anschauung zu machen versucht, wird sich das Nebeneinander von Trümmern, | |
Altbauten und Neubauten in Erinnerung rufen“, um mit den Worten von | |
Reinhart Kosselleck zu enden. | |
Sebastien Tellier „My God is blue“ (Record Makers/Alive); Nite Jewel „One | |
Second of Love“ (Secretly Canadian/Cargo); Sun Araw & M. Geddes Gengras | |
meet the Congos „Icon give Thank“ (Rvng Intl.), Lucrecia Dalt „Commotus“ | |
(Human Ear Berlin) | |
3 Aug 2012 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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