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# taz.de -- Neues Album von Sébastien Tellier: Volle Entfaltung in Rio
> Rebell, ESC-Star, Psychopath: Das Pariser Künstler-Enfant-Terrible
> inszeniert sich immer wieder neu. In „LAventura“ imaginiert er eine
> Kindheit in Brasilien.
Bild: Hat den Brasilianer in sich entdeckt: Sébastien Tellier
Zugegeben, es ist schon ein Weilchen her. Und doch ist mir Sébastien
Telliers Berlinkonzert vom November 2006 in lebhafter Erinnerung: Der
französische Künstler trug einen weißen Anzug – so etwas wie seine
Arbeitsuniform – und kübelte sich auf der Bühne flaschenweise Champagner
rein. Bevor er seine Songs anstimmte, verlor er sich jeweils in langen
Selbstgesprächen. Davon war das Publikum, hauptsächlich Franzosen, schnell
„énervé“. Es pöbelte. Tellier solle doch gefälligst seinen Hit „La
Ritournelle“ spielen. Dieses wunderschöne, unheimlich traurige Liebeslied,
das ihn 2004 auf einen Schlag weltberühmt gemacht hatte.
Zuvor hatte sich der Sänger mit der sanften Stimme bereits im Kielwasser
des Versailler Popduos Air bemerkbar gemacht: 2001 war er für sie als
Vorband auf Tour gebucht. Zwei Jahre später landete der melancholische
Instrumental-Song „Fantino“ aus Telliers tollem Debütalbum „L’incroyab…
vérité“ verdientermaßen auf dem Soundtrack von Sofia Coppolas
Oscar-prämierten Film „Lost in Translation“.
Und schließlich kam der große Erfolg dank des Kosmetik-Konzerns L’Oréal,
der mit besagtem „La Ritournelle“ einen Werbeclip über Gesichtscreme für
Männer bewarb. Schon komisch, wenn man bedenkt, dass Telliers
Markenzeichen, mal abgesehen vom weißen Anzug, seit jeher der struppelige
Bart und sein verschwiemeltes, strähnig über die Sonnenbrille hängendes
Haar ist. In jener November-Nacht in Berlin spielte Tellier gefühlte fünf
Songs. Was er auf der Bühne genau von sich gab, ist zwar längst vergessen,
aber unterhaltsam war es bestimmt – und für jemanden, dessen genaue
Gesichtskonturen bis heute ein Rätsel sind, überraschend persönlich.
Denn trotz Champagnerlaune und Selbstironie schüttete der Künstler auf der
Bühne des Roten Salons sein Herz aus. Und das Publikum dankte es ihm mit
Pfiffen. Kurz zuvor ließ sich Tellier freiwillig in die Psychiatrie
einliefern. So berichtete er der Tageszeitung Libération von seinen
Aggressionen, dem Selbsthass und seinem Alkoholproblem. „Ich dachte, man
würde sich dort um mich kümmern. Von wegen. Da sind die Patienten genau wie
die, von denen sie betreut werden: sehr aggressiv und überhaupt nicht
nett.“ Trost spendete seine kleine Schwester, die ihm heimlich Pim’s (Kekse
mit Orangenmarmelade und dunklem Schokoguss) in die Klinik schmuggelte.
„Das Essen war widerlich.“ Nach fünf Tagen flüchtete er aus der Anstalt.
## Zu anspruchsvoll für den ESC
Im Popbiz hält er es hingegen bis heute aus. Obwohl er keine Gelegenheit
verpasst, seine Fangemeinde vor den Kopf zu stoßen. So gelang es ihm zur
Überraschung aller, Frankreich beim Eurovision Song Contest 2008 zu
vertreten: Tellier galt zwar allgemein als ESC-konform, aber seine seltsame
Musik sei dann doch zu anspruchsvoll für so einen Populismus-Event.
Ein Journalist der Zeitschrift Technikart brachte es mit dem Satz „Ich
glaube, er freut sich wirklich“ auf den Punkt. Telliers Entschluss drückte
seinen Wunsch aus, sich vom Underground und dessen bisweilen spießigem
Anspruch auf Perfektion zu emanzipieren. „Ich wollte nie elitär sein“,
bestätigte Tellier.
Der Auftritt ging trotzdem nicht ohne Eklat über die Bühne. Ein
Abgeordneter der rechtskonservativen UMP bemängelte die Tatsache, dass
Tellier auf Englisch sang. Skandalös, wahrlich! Drei Tage prasselte es
Schlagzeilen in der Regenbogenpresse. Tellier blieb cool und entgegnete
lapidar: „Wegen mir wird das Baguette morgen auch nicht schlechter“.
## L’amour à la française
Sein Eurovisionsauftritt war dann doch auf raffinierte Weise
massentauglich: Mitten im Lied fällt er theatralisch auf die Knie und
gelobt auf Französisch: „Du weißt, wie es ist, du und ich. Für mich singt
die Liebe auf Französisch.“ Der Song, er heißt „Divine“, belegte zwar n…
einen der hinteren Plätze, was seinen Komponisten nicht zu stören schien:
Bald darauf heiratete er nämlich die Co-Komponistin, seine langjährige
Freundin Amandine de la Richardière bei einer Voodoo-Zeremonie in Benin.
„Divine“ findet sich auch auf Telliers drittem, von der Kritik gefeiertem
elektronischen Pop-Opus „Sexuality“, das wiederum von Daft-Punk-Mitglied
Guy-Manuel de Homem-Christo produziert wurde und Telliers feucht-laszive
Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität thematisiert.
Tellier hat viele Gesichter. Im vorangegangenen Album „Politics“
inszenierte er sich noch als Rebell und Utopist. „My God Is Blue“ (2012)
wiederum basierte auf spirituellen Erfahrungen, die der 39-Jährige in Los
Angeles gesammelt hatte. In Kalifornien verließ er das Haus stets im
weißen, wallenden Gewand – mit einem riesigen blauen Pepito (Keks mit
Milchschokoguss) um den Hals. Provokativ und exzentrisch mag ja er sein,
aber ein Idiot ist Sébastien Tellier keineswegs.
Aller höherer Quatsch führt ihn immer wieder zielsicher zu philosophischen
Erkenntnissen. Ob er sich als Guru verstünde, fragte ihn ein Journalist des
TV-Senders Canal+. „Gurus manipulieren Leute, sie erteilen Befehle – das
mag ich nicht. Und sie geben Ratschläge – das macht mich krank“, antwortete
Tellier. Und weiter, immer freundlich: „Ein Künstler sollte der Feind vom
Spezialisten sein. Er muss immer auf der Anfangseuphorie surfen, denn nur
die ersten Alben sind die wirklich gelungenen.“
## Neues Album, weniger Selbstbezogenheit
Mittlerweile ist Telliers achtes Studioalbum erschienen, und er ist nicht
nur in Frankreich ein gefeierter Star. „L’Aventura“ ist ausnahmsweise mal
nicht seiner eigenen Seelenwelt gewidmet, denn „das introspektive
Abenteuer, dem meine Meister Gainsbourg, Van Gogh und Artaud einst gefolgt
sind, führt nicht zum Glück“, wie er im Interview mit Le Figaro kürzlich
verkündete.
Diesmal habe er sich vorgenommen, seine langweilige und trübsinnige
Kindheit neu zu erfinden und außer Landes zu verlegen – ins sonnenumflorte
Brasilien. „Brasilien, Samba / Das ist meine Kindheit / Dort bin ich
aufgewachsen“, fantasiert er im Song „L’enfant vert“, der ein wenig an …
Vorspann zur TV-Serie „Miami Vice“ erinnert.
In Wahrheit ist Tellier im gutbürgerlichen Pariser Vorort Plessis-Bouchard
groß geworden und besuchte die renommierte Privatschule Saint-Martin de
France, bis er rausgeworfen wurde, weil er Gift in ein Aquarium geschüttet
hatte. „Brasilien hatte ich schon sehr früh in mir“, lässt er die belgisc…
Zeitung Le Soir wissen, denn sein Bossa-Nova-begeisterter Vater, einst
Gitarrist der Progrock-Band Magma, habe ihm als kleines Kind bereits die
Akkorde beigebracht.
## Hypnose im Taxi
Telliers erste Reise nach Brasilien fand in Wirklichkeit erst 2008 statt,
als er mit „Sexuality“ auf Tour war. Musik, die aus dem Autoradio eines
Taxis in Rio strömte, soll ihn in hypnotisiert haben: „Ich hörte keine
Noten, keine Akkorde, keine Produktion. Es war, als hätte man mir einen
Spiegel vorgehalten: Die brasilianische Popmusik ist komplex, steht
allerdings immer im Dienste der Leichtigkeit. Selbst wenn sie traurig ist.
Und so bin ich auch: eine komplexe Person, die versucht, unterhaltsam zu
sein.“
Hoffnungen auf eine seriöse Auseinandersetzung mit seiner neuen Wahlheimat
sollte man sich aber nicht machen, auch wenn Tellier musikalisch immer den
richtigen Ton trifft. Bereits im Song „L’enfant vert“ errechnet er die
Fläche Brasiliens mit „8.074.876“ auf den Quadratkilometer genau, um
daraufhin von einer frei erfundenen Vogelspezies zu fabulieren.
Ungereimtheiten und Klischees habe er bewusst zugelassen, teilte er dem
Magazin Les Inrockuptibles mit. „L’Aventura“ sei eben ein Brasilien aus d…
Sicht eines Franzosen. Tatsächlich ist das Album als eine Art fiktiver
Soundtrack aus den Siebzigern inszeniert, samt schwülen Italo-Pop-Elementen
à la Lucio Battisti, gemischt mit luftigen brasilianischen Flöten und
Perkussion. Für Produktion und Arrangements engagierte Tellier den
Gitarristen Arthur Verocai, eine Kultfigur der Musikszene im Rio der
Siebziger. Einst konnte Verocai Jazzlegenden wie dem Drummer Robertinho
Silva zu Ruhm verhelfen. Zur Krönung durfte Tellier in Jean-Michel Jarres
Tonstudio abmischen. „Er hat die größte Synthesizer-Sammlung Europas“,
schwärmt Tellier. „Wir konnten uns voll entfalten, weit aufbrechen.“
Sébastien Tellier ist mit „L’Aventura“ ein solides, detailreich
auskomponiertes Werk gelungen, das mit Leichtigkeit der täglichen Schwermut
entschwebt und zugleich zur Kontemplation einlädt. Telliers eigensinnige
Musik erlaubt sich, bodenständig albern zu sein, macht aber auch ein wenig
wehmütig. Im Oktober kommt Tellier endlich wieder für zwei Konzerte nach
Deutschland. „La Ritournelle“ muss diesmal nicht zwingend auf der Setlist
stehen.
9 Sep 2014
## AUTOREN
Elise Graton
## TAGS
Musik
Brasilien
Italien
Film
Neues Album
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