# taz.de -- Konzert von Nite Jewel in Berlin: Hoffnungsvolle Melancholie in Gr�… | |
> Ohne sanfte Nötigung: die Elektronik-Musikerinnen Nite Jewel, Farce und | |
> Discovery Zone treten in der Berliner Volksbühne auf. | |
Bild: Nite Jewel bei ihrem Auftritt in der Berliner Volksbühne, 16. Juni | |
Sanfte Nötigung“ hat Nina Power ihren Essay über den Zusammenhang zwischen | |
Lautsprecherdurchsagen mit weiblichen Stimmen und der Kontrolle des | |
städtischen Klangraums betitelt. Der britischen Autorin ist aufgefallen, | |
wie der angenehme, scheinbar neutral softe Sound dieser assistierenden | |
Frauenstimmen in Bahnen und an Schaltern den eigentliche autoritären | |
Charakter ihrer Funktion verdeckt: für Orientierung und Ordnung zu sorgen | |
und den Kreislauf des Geldes aufrechtzuerhalten. | |
Demgegenüber war der Klang der drei weiblichen Stimmen, die am Donnerstag | |
in der Berliner Volksbühne zu hören waren, dem man mehr Publikum gewünscht | |
hätte: disparat, chaotisch, auch mal ungelenk und gerade deshalb super | |
charmant. | |
Den Anfang machte die in Wien lebende Musikerin Veronika J. König, die | |
unter dem Namen Farce gerade ihr zweites Album „Not to Regress“ | |
veröffentlicht. Da die junge Frau mit den kurzen Haaren gleichzeitig an | |
Gitarre, Maschinenpark, Fußpedalen und Gesangsmikrofon hantiert, fällt ihr | |
das Entertainen schwer. „Kann ich ein bisschen Strobo haben?“, fragt sie | |
schüchtern. Selbst das Stroboskop blinkt zurückhaltend. | |
## Spröde und laut | |
Wobei Farce-Songs so spröde klingen, dass sie larger than life wirken: | |
leicht vergorene und volle Pulle scheppernde elektronische Popsongs, die | |
über Annie Lennox als androgynen Star Bescheid wissen, aber nicht zu | |
ehrfürchtig von diesem Wissen aus in der Gegenwart weiterwursteln. | |
Da Partner:Innen wie etwa [1][Soap&Skin] nicht mit von der Partie sind, | |
müssen sich die Zuschauer:Innen beim Auftritt von Farce allerdings viel | |
dazudenken, was das Potenzial der Songs und ihre auch bei Up-tempo | |
entspannt klingende sonore Stimme nicht schlechter klingen lässt: „Come | |
close to me/Or let it go“. | |
Weiter geht es mit Discovery Zone, dem Soloprojekt der in Berlin lebenden | |
New Yorker Musikerin und Filmemacherin JJ Weihl, die auch von der [2][Band | |
Fenster] bekannt ist. Discovery Zone ist als Multimediashow angelegt. Weihl | |
singt, spielt Theremin, und auf der Leinwand hinter ihr sind zu jedem Song | |
ihres 2021 erschienenen Albums „Remote Control“ von ihr animierte Clips zu | |
sehen. | |
## Toaster mit Flügeln | |
Deren Ästhetik holt die sepiafarbene Ästhetik von New-Age-Spiritualität und | |
den Hintergrundtapeten der Aerobicvideos aus der Mottenkiste und wirft sie | |
in CGI-Unendlichkeit: Mal flattern unzählige Toaster mit Flügeln vorbei, | |
mal wird eine gekachelte Badezimmerlandschaft mit Klodeckel und | |
verzweigtem Rohrsystem zur dreidimensionalen Skulptur. | |
Alle paar Songs beschwört Weihl wie ein Guru ihr Theremin. Ab und an | |
schleicht sie ums Technikpult, animiert zum Klatschen. Ihre Stimme ist | |
allerdings von dichtem Hall abgeschirmt und der scheinbar niedlich-naiven | |
Melodienkaskade hätte ab und an etwas Gegensteuerndes gutgetan. Am Ende | |
zeigt sie ihr mit flauschigem Einband ummanteltes Poesiealbum und sagt, sie | |
freue sich über Einträge des Publikums: „Never stop Dreaming“. | |
Grün ist die Farbe der Hoffnung und in Grün ist dann der Hintergrund | |
getaucht, als die kalifornische [3][Musikerin Nite Jewel (Ramona Gonzalez)] | |
gegen 23 Uhr mit einem Begleiter die Bühne betritt. Auch sie in Grün | |
gekleidet. | |
## Pulsierender Sequenzer-Ton | |
Ohne Weiteres beginnt die 37-Jährige mit „Anymore“, dem Auftaktsong ihres | |
aktuellen Albums [4][„No Sun“], der von einem pulsierenden | |
Moog-Sequenzer-Ton angetrieben wird und programmatisch zu einer Klage auf | |
Albumlänge anhebt. Konzentriert geht Nite Jewel zu Werke, ihre Präsenz am | |
Synthesizer verhehlt nie die Arbeit an den kleinen, wichtigen Details der | |
Arrangements, die für Wohlklang sorgen. | |
„No Sun“ wringt aus den synthetischen Klängen der Maschinen maximale | |
Melancholie und setzt diese elektronischen Emotionen in eingängige | |
Hooklines um. Es ist ein klassisches Break-up-Album, das über acht Songs | |
die Verwerfungen einer Trennung aus weiblicher Perspektive nachzeichnet. | |
Glücklicherweise entscheidet sich Nite Jewel nicht zwischen Artpop und | |
elektronischem R&B, beide Pole blitzen immer wieder auf. Diese | |
Unentschiedenheit kennzeichnet die Karriere von Nite Jewel, die im Umfeld | |
von Musiker:Innen wie Julia Holter bekannt wurde. Wie Holter | |
unterbricht auch Gonzalez regelmäßig ihre Popkarriere für eine akademische | |
Laufbahn. | |
In der Volksbühne unterbricht Nite Jewel den Flow der neuen Songs und | |
streut alte Songs in ihre Setliste ein, am schönsten „One Second of Love“, | |
Titeltrack ihres Albums von 2012. „I can’t describe what I want anymore.“ | |
17 Jun 2022 | |
## LINKS | |
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[3] /Neues-Album-von-Nite-Jewel/!5408734 | |
[4] https://nitejewel.bandcamp.com/album/no-sun/ | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
Konzert | |
Berliner Volksbühne | |
Synthesizer | |
Julia Holter | |
Synthiepop | |
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