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# taz.de -- Theaterfestival in Estland: Der unsichtbare Schmerz
> Estlands Theater sind beliebt – aber aus Pflicht. Wie bilden sie Brüche
> der Gesellschaft EU-Anbindung und historischer Verantwortung ab?
Bild: Volle Häuser, aber wenig Begeisterung
Ach, wie enttäuschend. Alle sind ja superlieb hier, und Liisi Aibel von der
nationalen Theateragentur (ETA) bemüht sich rührend um die Gäste. Aber das
erwartungsfrohe Lächeln auf den Gesichtern der paneuropäischen Gruppe von
Theaterleuten, die im Schnee durch die Altstadt Tallinns stapfen – denn es
hat geschneit in Estland, und viel, bereits im November! – das Lächeln ist
schon merklich eingefroren.
Es ist „draamamaa-weekend“, das Showcase-Festival der nationalen
Theateragentur: Eine in die Spielpläne hineinmontierte Präsentation der
neun Produktionen, die eine Jury für die bemerkenswertesten im Jahr 2016
gehalten hat. Dafür sind Theaterleute aus Polen gekommen, eine Dramaturgin
aus Finnland, Festival-Scouts aus St. Petersburg, ein Choreograf ist aus
Frankreich, eine Festivalkuratorin aus Groningen eingeflogen, eine
Regisseurin aus Basel, ein Portugiese, und ein paar Deutsche kommen
verspätet. Der Flieger. Der Schnee. Alle haben die feste Absicht,
Entdeckungen zu machen.
Bloß gerade fühlt sich das estnische Theater an wie ein gebrochenes
Versprechen. Wenn man auf die Zahlen schaut, den Publikumszuspruch, sind
die darstellenden Künste Estlands einsame Spitze: Laut ETA besuchen
jährlich 1,01 Millionen Zuschauer Aufführungen in den gut 50 Spielstätten.
Dabei hat das Land nur 1,35 Millionen Einwohner. Macht einen Schnitt von 75
Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland liegt der bei 47 Prozent.
„Vielleicht wäre es besser, es kämen ein paar weniger“, sagt Priit Raud.
Raud, Mitte 50, dunkelblauer Pulli, Kurzhaarschnitt und
Intellektuellenbrille, ist einerseits Intendant eines der
überdimensionierten Provinztheater, in Rakvere: ein Haus mit drei Sälen,
der größte hat 400 Plätze. „Und das in einer Stadt von 13.000 Einwohnern�…
sagt er. „Viel zu groß!“ Zum anderen ist er Wegbereiter einer eigenen
postdramatischen Performing-Arts-Szene in Estland. Seit dessen Gründung
2002 leitet er nämlich auch den Kanuti-Gildi-Saal: Der einstige Festsaal
der medievalen Kanutigilde im Herzen Tallinns erinnert etwas ans
Frankfurter Theater am Mousonturm.
## Ruinen eines Schlagers
Im goldglänzenden Altstadtcafé rührt Raud noch einmal im Espresso, der
eigentlich leer sein müsste, und stellt klar, dass sein Missmut über die
vielen ZuschauerInnen keine elitäre Position sei, im Gegenteil! Geradezu
zärtlich spricht er über Künstler, die er im Programm hat, wie jetzt den
rising star Karl Saks. Tatsächlich ist dessen spartanische Solochoreografie
„State and Design“ eine konzentrierte Etüde über Form, Präsenz, Entstehe…
und ihre Zerstörung. Saks tanzt fast meditativ, hin und her zwischen einem
Gipsblock und den Trümmern eines anderen. Dazu erklingen Ruinen eines
Schlagers von einem abgenudelten Tonband. Was früher die Herzen schlagen
ließ, ist heute unbrauchbar fürs Leben.
Rauds Pessimismus hat etwas mit den Zuschauern zu tun. „Die meisten
interessieren sich nicht mal dafür, was sie anschauen“, sagt er. Man geht
ins Theater, weil das eben dazugehört. Und so sind die Häuser voll. Großen
Beifall erntet selbst die maximal lustlos auf die Bühne gekackte Doku-Show,
die der Wiener Choreograf Oleg Soulimenko mit „I’d rather dance with you“
im Vabalava gleich hinterm Bahnhof angerichtet hat.
Am Thema liegt’s nicht: Soulimenko greift den großen Minderheitenkonflikt
des Landes auf, zwischen estnisch- und russischsprachiger Bevölkerung. Am
greifbarsten ist der in der Region Ida-Viru um die Grenzstadt Narva, ganz
im Osten Estlands: Die meisten Einwohner Narvas sind Staatenlose, auch,
aber nicht nur infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Mittlerweile
geht es um vier Generationen. Laut staatlicher Vererbungslehre haben Kinder
russischsprachiger Eltern kein estnisches Blut. Das östlichste Mitglied der
Wertegemeinschaft EU verstößt hier beharrlich gegen die
Menschenrechtskonvention.
## Quellen des Hasses
Diese Spannungen werden grundiert von Ressentiments aus der Stalinzeit.
Damals versuchte man, die Esten per Siedlungspolitik im eigenen Land zur
Minderheit zu machen und sie durch Verschleppung auszulöschen. Eine weitere
Hassquelle liegt im wenig bearbeiteten ambivalenten Verhalten der Esten im
Zweiten Weltkrieg begraben. In der Schlacht um Narva, die 1944 mehr als
500.000 Opfer forderte, kämpften Esten auf beiden Seiten. Und erkennbar hat
dies auch eine Bedeutung für die Zukunft Europas. Sie drängt also auf die
Bühne, wo der unsichtbare Schmerz greifbar werden könnte, behandelbar.
Aber Soulimenko ist bloß das Setting einer Talkrunde eingefallen. Vier
lieblos zusammengecastete Alltagsexperten, die am Konflikt beteiligte
Peer-groups repräsentieren, aber kaum persönliche Geschichten erzählen
können, sitzen auf Hockern und Sesseln im Halbkreis auf der großen Bühne.
Eine Tänzerin stellt ihnen Suggestivfragen und vollführt dabei die Gesten
des Voguing, anderthalb Stunden lang. Im Sammeltaxi weg vom Spielort ist es
nachher deutlich kälter als draußen, obwohl man dicht zusammenrückt.
„Alors, c’était nul…“, José Alfarroba sucht nach Worten, also diese
Tänzerin, der hätte er am liebsten – na ja, ihr irgendwie Einhalt geboten
halt.
Alfarroba, in den Sechzigern aus der portugiesischen Diktatur Salazars nach
Frankreich geflohen, war bis vor Kurzem Intendant des Théâtre de Vanvres
und ist noch immer eine wichtige Persönlichkeit des kulturellen Lebens der
Île de France. Fast sauer wirkt er jetzt. Und ein wenig betroffen: Es ist
sein erster Kontakt mit estnischem Theater. Und er soll doch in der
kommenden Spielzeit hier arbeiten.
Das Vabalava, wörtlich: freie Bühne, ist erst 2014 eröffnet worden, auf dem
Gelände einer stillgelegten Ziegelei. Der Komplex direkt hinterm Bahnhof
ist halb dem Verfall, halb der ungehemmten Gentrifizierung preisgegeben. Im
alten Verwaltungstrakt der Fabrik residiert die ETA, in kernsanierten
Fertigungshallen haben sich schnieke Boutiquen, Innenarchitekten, die beste
Bäckerei der Stadt und ein Ökobaustoffhandel angesiedelt. Und dazwischen:
dieser traumhaft schöne Tempel der Performing Arts.
## Abscheu gegenüber Kolonialisten
Hier wird Alfarroba ab Sommer das Programm mitprägen, denn, so erklärt
Direktorin Kristina Reidolv, „wir haben immer einen Kurator aus dem Ausland
und einen von hier“. Das Haus soll ein Ort des internationalen Austauschs
werden, und das ist klug, solange man dabei an Leute gerät wie Alfarroba,
der von sich sagt, „j’ai horreur des colonisateurs“: Er verabscheut
Kolonialisten.
Estlands Theater ist nämlich einst aus dem Bedürfnis der Selbstbestimmung
nach 700 Jahren Sklaverei entstanden: Die ersten estnischen Dramen verfasst
Lydia Koidula Ende des 19. Jahrhunderts. Für Privataufführungen: Auf den
Bühnen des Zarenreichs ist Estnisch verboten. Theater wird Medium der
Autonomiebewegung. Seine Bedeutung als „Träger der nationalen Identität“
nimmt laut dem Theaterwissenschaftler Ott Karulin in der Sowjetzeit ab 1941
eher noch zu: „Das Theater wurde zu einem Ort, an dem Wahrheiten
ausgesprochen werden konnten.“
Jetzt ist erst mal der Schnee von heute zu bewältigen, und mit einem Wodka
der Frust wegzuspülen! Dass Theater politische Wirkungen entfalten kann, im
Guten wie im Schlechten, dafür gibt es kein besseres Beispiel als das von
der Regisseurin Ene-Liis Semper geleitete Theater NO 99. Es ist ein
staatliches Theater mit fester Spielstätte. Das Haus liegt auch im Zentrum,
aber jenseits der Stadtmauer von Tallinn. Von Semper und Tiit Ojasoo
gegründet, versteht es sich als temporäres Konzeptkunstwerk: ein Ensemble,
das sich nach 99 Produktionen, am Ende des namensgebenden Countdowns,
auflöst.
## Einmischung in Politik
Legendär sind ihre Einmischungen in die estnische Politik, die mitunter ein
großes Publikum erreichen, Zehntausende. Umgekehrt sind auch die
institutionellen Reaktionen heftig. Klar gehört Gewalt gegen Frauen
geächtet. Dass NO-99-Mitgründer Tiit Ojasoo eine Schauspielerin bei den
Proben geschlagen hat – unentschuldbar. Vielleicht hätte er von sich aus,
obwohl der Fall juristisch geklärt war, seinen Posten abgeben müssen.
Dass sich alle sechs Fraktionen der Nationalversammlung zusammenzutun, um
den Regisseur per Entschließungsantrag zu maßregeln, wirkt, als hätte die
Politik die Gelegenheit genutzt, das europaweit gefeierte, aber unbequeme
Projekt vorzeitig loszuwerden. Bei der jüngsten, 39. Premiere schien es,
als wäre das nicht wirkungslos verpufft: Sicher war es nur eine Produktion
von den geplanten 100, und auch hatte der Regisseur noch nie mit dem
Ensemble gearbeitet. Aber die „Mutter Courage“ wirkte eingeschüchtert,
bieder und gedämpft, wie begraben unter einer dichten Schneedecke, die erst
im Frühjahr schmilzt.
Benno Schirrmeister war im Rahmen des [1][Programms „Nahaufnahme“], ein
Journalistenaustausch des Goethe-Instituts, zu Gast beim staatlichen
estnischen Rundfunk ERR in Tallinn.
9 Jan 2017
## LINKS
[1] https://www.nahaufnahme.de
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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