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# taz.de -- Parlamentswahl in Estland: Ein Schwenk nach rechts
> Estlands Zentrumskoalition ist abgewählt, Liberale dürften die Macht
> übernehmen. Zudem erhalten Rechtspopulisten Zulauf auf dem Land.
Bild: Mit Kaja Kallas, Vorsitzende der Reformpartei, könnte erstmals eine Frau…
Stockholm taz | Mit einem klaren Wahlsieg für die rechtsliberale
Reformpartei ist die Parlamentswahl in Estland am Sonntag ausgegangen. Die
Partei, die in den letzten zwei Jahrzehnten mit Ausnahme der letzten
zweieinhalb Jahre an allen Regierungen des Landes beteiligt war, kam auf
28,8 Prozent und 34 (plus 4) der 101 Sitze im Parlament in Tallinn.
[1][Entgegen letzten Meinungsfragen] platzierte sie sich damit vor der
sozialliberalen Zentrumspartei des bisherigen Ministerpräsidenten Jüri
Ratas. Die musste gegenüber 2015 leichte Verluste hinnehmen und erreichte
23 Prozent und 26 (minus 1) Sitze.
Die bisherige Koalition der Zentrumspartei mit den Sozialdemokraten und der
konservativen Isamaa hat damit keine Mehrheit mehr. Die Juniorpartner der
Zentrumspartei mussten deutliche Verluste hinnehmen und kamen nur noch auf
10 (minus 5) beziehungsweise 12 (minus 2) Mandate.
Als wahrscheinlich gilt daher eine „große Koalition“ aus Reform- und
Zentrumspartei. Mit der 41-jährigen Kaja Kallas, der Tochter des
Ex-Ministerpräsidenten und ehemaligen Vizepräsidenten der EU-Kommission
Siim Kallas, würde damit auch erstmals eine Frau an der Spitze einer
estnischen Regierung stehen.
Rein rechnerisch würde es zwar auch für eine parlamentarische Mehrheit der
Reformpartei mit EKRE, der Estnischen Konservativen Volkspartei, reichen.
Führende Mitglieder der Reformpartei lehnten aber noch in der Wahlnacht
eine solche Konstellation ab. Kaja Kallas hatte schon vor der Wahl gesagt,
EKRE gefährde die verfassungsmäßige Ordnung und „will Estland zerstören�…
## Rechtsextreme können Stimmanteil mehr als verdoppeln
EKRE, eine 2012 gegründete rechtsextreme und EU-kritische Partei, die vor
vier Jahren mit 8,1 Prozent erstmals ins Parlament einzog, konnte diesmal
ihre Stimmen auf 17,8 Prozent mehr als verdoppeln. Mit 19 statt bislang 12
Sitzen wurde sie drittstärkste Kraft im Parlament. EKPE ist gegen die
Aufnahme von Flüchtlingen und gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften,
weil diese das Überleben des estnischen Volks gefährden; sie hält
Feminismus für „pervers“ und den menschengemachten Klimawandel für eine
Lüge. „Wir wollen dem Kurs von Ungarn und Polen folgen ,“ sagt
EKRE-Vorsitzender Mart Helme, der sich selbst als so etwas wie Estlands
Donald Trump sieht.
Hinter dem EKRE-Popularitätsschub stünden zwei Dinge, meint Andres
Kasekamp, Professor für baltische Politik an der Universität Tartu: die
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, mit der Estland
Vorreiter unter allen ost- und zentraleuropäischen Staaten war, sowie die
„Flüchtlingswelle“ 2015, auch wenn von dieser in Estland so gut wie nichts
zu spüren war.
Die eigentlichen Wurzeln der Unzufriedenheit, von der EKRE nun profitieren
konnte, liegen tiefer. Die Folgen der neoliberalen Politik seit Mitte der
1990er Jahre haben Estland zweigeteilt. Die Städte Tallinn und Tartu sind
reativ reich, die ländlichen Regionen arm, die Preissteigerungen sind aber
überall gleich.
Hierauf zielte das EKRE-Wahlprogramm mit Vorschlägen wie unterschiedlichen
Steuersätzen für Stadt und Land, staatlich garantierter Abnahme von
landwirtschaftlichen Produkten zu Festpreisen, der Auslagerung staatlicher
Behörden aufs Land, einer Verdoppelung der Renten und einer Senkung der
Mehrwertsteuer. Die Partei erzielte damit in den am meisten „abgehängten“
ländlichen Regionen im Süden und Südosten ihre besten Ergebnisse und wurde
dort teilweise stärkste Partei.
4 Mar 2019
## LINKS
[1] /Parlamentswahl-in-Estland/!5577262
## AUTOREN
Reinhard Wolff
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