| # taz.de -- R&B-Album von Jessy Lanza: Knietief im ultimativen Bekenntnis | |
| > Die kanadische Künstlerin Jessy Lanza verwandelt ihr Album „Oh No“ zur | |
| > dissonanten R&B-Oper. Offen singt sie darin über Herzschmerz. | |
| Bild: Liebe ist Geborgenheit: Jessy Lanza | |
| Liebe ist ja manchmal nichts anderes als eine leichte Form von | |
| Geisteskrankheit. Die Liebenden sind berauscht vom verehrten Gegenüber, | |
| verlieren den Bezug zur Realität und das Schlimmste: Sie führen die ganze | |
| Zeit dieses schmerzhaft schöne, nie enden wollende Selbstgespräch zwischen | |
| Verzweiflung, Ego-Flash und Selbstbetrug. Liebe ist immer auch eine | |
| „Schleifspur der Leiden, Verletzungen und Ängste“, wie Roland Barthes in | |
| seinem Essay „Fragmente einer Sprache der Liebe“ festgestellt hat. | |
| Auf „Oh No“, dem neuen Album der kanadischen Musikerin Jessy Lanza, geht es | |
| um beides: das Herzflimmern von Liebeseuphorie, aber auch Ängste und | |
| Neurosen, die das Verliebtsein mit sich bringen. Lanza macht sich in den | |
| Texten auch Gedanken über Fallstricke und Schwierigkeiten des | |
| Liebesbekenntnisses. | |
| Im Gegensatz zu Roland Barthes zweifelt die Kanadierin nie an der | |
| Aussprechbarkeit. Barthes zufolge wären die Worte „ich liebe dich“, sind | |
| sie einmal ausgesprochen, nur noch eine redundante Floskel. Ein weiteres | |
| Problem: Das Wort „lieben“ gibt es „nicht im Infinitiv“, da Subjekt und | |
| Objekt unzertrennlich miteinander verbunden sind. | |
| ## Sechsmal „I Love You“ | |
| Lanza hingegen verwandelt jene dialektischen Dissonanzen in eine bunte | |
| Neo-R-&-B-Oper. Ihr gelingt es, „I love you“ wieder sagbar klingen zu | |
| lassen, ohne dabei banal zu wirken. Immer wieder singt die 30-Jährige, | |
| bisweilen haucht sie sogar das ultimative Bekenntnis. In dem Song „It Means | |
| I Love You“ taucht es gleich sechsmal auf, in „Going Somewhere“ fordert | |
| sie sogar: „Just say you love me“. | |
| Das könnte eine Drohung sein, ein wohlwollender Klaps oder vielleicht gar | |
| eine Form von Narzissmus, der großen Schwester von Liebe. Und während der | |
| von einem unaufdringlichen Breakbeat und zwei Piano-Akkorden getragene | |
| Titeltrack „Oh No“ von den Sorgen des Verliebtseins handelt, geht es im | |
| nicht weniger popaffinen „VV Violence“ auch um die obligatorische | |
| Verunsicherung ob der ausgebliebenen Erwiderung: „I say it to your face / | |
| But it doesn’t mean a thing“. | |
| Lanzas hohe, stets subtil in den Vordergrund gemischte Stimme ist dabei ein | |
| Balsam, der sich etwa auftragen ließe, um die Haut zu glätten. Oder gleich | |
| die ganze Welt. Dass der Gesangsstil der ausgebildeten Jazzpianistin stark | |
| an den der japanischen Popsängerin Miharu Koshi erinnert, ist gewollt: | |
| Lanza nennt jene vor allem in den achtziger Jahren bekannte Sängerin als | |
| eine ihrer wichtigsten Einflüsse. Hinzu kommen zeitgenössische Musiker wie | |
| etwa der US-Houseproduzent Morgan Geist, die beiden Footwork-Pioniere DJ | |
| Spinn und DJ Rashad aus Chicago und nicht zuletzt: R&B. | |
| ## Kein konfektionierter Sound | |
| Dass die neun Songs von Lanzas zweitem Album dennoch nicht nach | |
| konfektioniertem R&B klingen, zeigt, wie sehr das Genre heute zu einem | |
| Sammelbecken unterschiedlicher Stile geworden ist. Eine Offenheit, von der | |
| Lanza überzeugt ist: „R&B wird oft in eine Schublade gesteckt, aber ich | |
| höre seinen Einfluss sowohl im Pop als auch in Countrysongs. R&B | |
| beeinflusst heute viele Genres“, schreibt die sich derzeit zusammen mit dem | |
| Footwork-Musiker DJ Taye auf US-Tour befindende Musikerin im | |
| E-Mail-Interview. | |
| Das klingt plausibel. Denn Lanza bleibt ihrer musikalischen Vorliebe | |
| weniger auf instrumentaler Ebene als auf Textebene treu. Wie bei der | |
| Blues-Sängerin Bessie Smith, die schon in den 1920er Jahren Liebe in all | |
| ihren gescheiterten wie geglückten, schönen wie schmerzhaften Varianten in | |
| ihren Songs interpretierte, geht es bei Lanza weniger um die äußere als um | |
| die innere Welt – und um die Beziehungen des Ichs zu anderen und zu sich | |
| selbst. Überhaupt verweigert sich Lanza mit ihrer lakonischen Erscheinung | |
| sowohl der im R&B zur Formel gewordenen Feier des gesunden Körpers als auch | |
| einer gewissen Funkyness. | |
| Die geht jedoch nie auf Kosten, sondern nur zugunsten von sympathischer | |
| Lässigkeit, mit der sie sich auch allzu starke Identifikation mit den | |
| eigenen Songs vom Leib hält. Im Video des Songs „You Never Show Your Love“ | |
| steht sie, statt am Swimmingpool neben hübschen Männern herumzuliegen, im | |
| Cabrio durch die Stadt zu cruisen oder deprimiert aus dem Fenster zu | |
| schauen, verloren mit ihrem Synthesizer vor einer verlassenen Fabrikhalle, | |
| eingerahmt von zwei nervös tanzenden Windfahnen, die in Kanada und den USA | |
| vor allem Tankstellen bewerben. | |
| Die Songs auf „Oh No“ klingen wie Mosaike, Versatzstücke aus Clubsounds und | |
| R&B, die angekitschte 80er-Synthiepop-Melodien wie in „I talk BB“ genauso | |
| wie Klatsch-Snares in „Never Enough“ enthalten. Gut gelaunte Synthiehooks | |
| treffen auf stolpernde, der zeitgenössischen Clubmusik zugewandte Beats und | |
| Melodien, die oft heiter und selten wolkig sind. | |
| ## Das Hybride passt zu Hyperdub | |
| Das Hybride ihres Albums, das Lanza zusammen mit Jeremy Greenspan vom | |
| House-Duo Junior Boys produziert hat, passt in die Ahnenreihe ihres | |
| Londoner Labels Hyperdub, eine der Adressen für experimentelle Clubmusik | |
| und futuristischen Pop. Dort ist die kontrollierte Sprengung von Genres | |
| seit vielen Jahren Programm. Aus dem Labelkatalog lässt sich ablesen, was | |
| den musikinteressierten Westen derzeit bewegt. Vor zehn Jahren war das vor | |
| allem der düstere wie dystopische Dubstep-Sound von Kode9 und Burial, | |
| Soundtrack einer von Selbstoptimierung und Zukunftsangst gezeichneten | |
| Generation. | |
| Jenen Hang zur Deprimiertheit hatte dann auch Mainstream-Pop infiziert, | |
| angeführt von Stars wie dem dauerleidenden Drake und dem R&B-Sänger Frank | |
| Ocean. Mit „Oh No“ und den vor kurzem erschienenen Alben der kalifornischen | |
| Sängerin Nite Jewel und von Babyfather, dem dadaistischen HipHop-Projekt | |
| des Londoners Dean Blunt, deutet sich die Gegenbewegung an: Affirmation | |
| statt Exorzismus, Lässigkeit statt Verzagtheit und vor allem: Geborgenheit | |
| statt Distanz. | |
| 17 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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