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# taz.de -- Neues Album von Mathegenie Caribou: Emotional breit aufgestellt
> Tröstendes in schwierigen Zeiten: Caribou – der in London lebende
> kanadische Elektronikproduzent Daniel Victor Snaith und sein neues Album
> „Suddenly“.
Bild: Musikgewordene Infinitesimalrechnung: Dan Snaith alias Caribou
Unter den seltsamen Karrieren, die das Popbiz ermöglicht hat, ist die von
Caribou die seltsamste: Der Künstler, der bürgerlich Dan Snaith heißt, ist
zurückhaltender Nerd, im Brotberuf [1][Mathematiker] (Titel der
Dissertation: „Overconvergent Siegel Modular Symbols“) und verschanzt sich
über Monate in seinem Studio, um unzählige musikalische Skizzen zu
entwerfen, bevor irgendwann daraus Musik für ein Album entsteht. Und dieser
Caribou wird über Nacht zum Rave-Zeremonienmeister. Schuld daran: sein
Überhit „Sun“ und sein markanter kleiner Bruder „Odessa“, beide zu fin…
auf dem Album „Swim“ (2010).
So paradox wie die Laufbahn des in London lebenden Kanadiers sind auch
seine warmen Soundwelten, die das Organische und die Abstraktion zugleich
feiern. Snaith fand an seinem Flirt mit der Popwelt übrigens durchaus
Gefallen. Auf dem „Swim“-Nachfolger „Our Love“ (2014) feierte er seine
Liebe zum Club erneut ausführlich.
Mit dem nun veröffentlichten neuen Werk macht Snaith nun doch vieles
anders, auch wenn „Suddenly“ immer noch wie Caribou klingt. Während der
42-Jährige bisher, so überbordend seine elektronische Psychedelik auch
daherkam, Ideen immer den nötigen Raum gab, ihre Wirkung zu entfalten, ist
der Titel diesmal konsequent umgesetztes Programm: Unerwartete Schlenker
ziehen sich durch alle Tracks.
## Ausladende R&B-Hymne
„New Jade“ etwa beginnt ausladend wie eine R&B-Hymne, erinnert dank Gitarre
dezent an The Cure und fädelt dann doch Richtung Dancefloor ein. Und „You
And I“ setzt eine cheesy Synthie-Melodie aus den tiefsten Achtzigern, um
dann in psychedelisches Geniedel zu explodieren; gepitchte Stimmen kontern
nach einem radikalen Break Snaith’ natürlichen Gesang.
„Klar wende ich als Produzent Tricks an, um Übergänge geschmeidiger klingen
zu lassen“, erklärt Snaith der taz die Arbeitsweise. „Aber diesmal habe ich
mich dagegen entschieden, weiter auf Pop zu setzen. Das wäre nicht mehr
ich. Die desorientierenden Momente sollten drinbleiben.“
Der Spurwechsel ist geglückt. Jeder Track ändert unerwartet die Richtung.
Das mäandernde Schlittern durch Stimmungslagen ist oft anregend,
funktioniert jedoch nicht immer. Die für Dancefloorsound so essenzielle
Repetition ist weitgehend aus dem Caribou-Sound verschwunden; bisweilen
vermisst man diese Echoräume, Ideen verpuffen zu schnell. Seine Faible für
Tanzmusik, so Snaith, lebe er dieser Tage eher als Daphni aus; unter diesem
Künstlernamen veröffentlicht Snaith linientreuen Techno: „In Caribou stecke
ich dagegen alles, was ich an Musik liebe.“
## Konkret wie nie zuvor
Zudem scheint er sich unter dem Alias neu zu erfinden – als Erzähler. Kein
Zufall, dass erstmals auf jedem Stück seine Stimme zu hören ist und die
Songtexte konkret sind wie nie zuvor. Reichlich Dramen habe es in seinem
Umfeld gegeben: unerwartete Todesfälle, explosive Trennungen. „In den
letzten fünf Jahren war mein Hauptjob, Menschen zu trösten.“ Erst im
Rückblick habe er festgestellt, dass seine Kompositionen diesmal im
Gegenzug die Funktion erfüllen, ihn zu trösten. „Die Arbeit am Album war
wie eine Umarmung.“ Trotz des privaten Chaos blieb er stoisch dran. Tag für
Tag ging Snaith ins Studio und nahm Ideen auf. Diesmal kondensierte er aus
9.000 Skizzen die Tracks.
„Suddenly“ beruft sich auf ein Werk, das er als große Inspiration
bezeichnet und von dem er sich ebenfalls umarmen ließ. Es heißt „Keyboard
Fantasies“ und wurde von dem afrokanadischen Transmann Beverly
Glenn-Copeland 1986 im Eigenverlag veröffentlicht. Einem breiteren Publikum
bekannt wurde es durch die Wiederveröffentlichung vor drei Jahren,
angestoßen von einem japanischen Fan. „Die New-Age-Instrumentierung
zusammen mit dieser ausdrucksstarken Stimme wirkte wie Balsam für mich“,
sagt Snaith. Tatsächlich finden sich Spuren von Glenn-Copelands sanfter
Elektroakustik auf „Suddenly“ wieder.
Wie eine introspektive Nabelschau klingt Caribou trotzdem nicht. Beim
Auftakt „Sister“ fühlt man sich zunächst fast wie ein Voyeur, so intim
klingt Snaith, wenn er sich bei seiner Schwester für sein Versagen
entschuldigt – zumindest bis er sich einem imaginären Bruder zuwendet und
breitere Zusammenhänge aufmacht: „Brother, you’re the one that must make
changes“ heißt es da, „No one else can do it if you don’t / Surely you h…
noticed things are changing.“
## Frauen und ihre Geschichte
Erschrocken, so erklärt er, sei er weniger über die bekannten Fälle, die in
der Folge von [2][#MeToo] durch die Medien gegangen seien. „Dass mächtige
Männer ihre Positionen missbrauchen, überrascht mich weniger. Viel
schockierender fand ich, dass so ziemlich jede Frau, die ich kenne, eine
Geschichte zu erzählen hat – und dass ich das bisher kaum wahrgenommen
hatte.“ Die Debatte über toxische Männlichkeit sei für ihn ein
Realitätscheck gewesen.
Diese Verunsicherung stellt er in einen weiteren Kontext: „Ich stamme aus
einer Mathematikerfamilie. Vielleicht deshalb habe ich immer geglaubt, dass
wir als Menschen in der Lage sind, Dinge rational anzugehen: Dass wir immer
mehr über die Welt herausfinden und die Dinge besser werden. Dieser Glaube
wurde in den letzten Jahren erschüttert – nicht zuletzt durch den
alltäglichen politischen Wahnsinn.“ Desorientierung spiegelt sich in Songs,
die atmosphärisch fortlaufend morphen: „Make up your mind, before it slips
away“ heißt es etwa in dem tollen „Lime“, das als sanft blubbernder
Housetrack beginnt und in gedämpftem Gechante endet.
In einem euphorisch-entrückten Schwebezustand bewegt sich dagegen der
Überhit des Albums, „Home“, um ein Sample des gleichnamigen Soulstück von
[3][Gloria Barnes] (1971) herum gebaut. Snaith dreht die romantische
Sehnsucht, die im Original steckt, zu einer fast gespenstischen Meditation
übers Sterben, wenn er mit brüchig-luftiger Stimme singt: „She’s better o…
than she has ever been / Now she’s made her peace with everything / Yeah
she’s going home.“
Tröstlich und verunsichernd – in diesem Spannungsfeld bewegt sich
„Suddenly“: oft beglückend, bisweilen durch die Zerfranstheit der Songs
auch frustrierend. Emotional breiter aufgestellt kann Musik kaum sein.
„Suddenly“ muss man mit Muße begegnen. Caribou machte diesmal kein Album,
zu dem sich abheben lässt. Eher zieht er einem dem Boden unter den Füßen
weg. Doch immerhin fällt man weich.
16 Mar 2020
## LINKS
[1] /House-Sound-von-Caribou/!5031178
[2] /Polanski-stuerzt-Cesar-Akademie-in-Krise/!5660344
[3] https://www.youtube.com/watch?v=2bRy6oyihVc
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
House
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