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# taz.de -- Nachruf auf Genesis P-Orridge: Unterhaltung durch Schmerz
> Genesis Breyer P-Orridge von Throbbing Gristle, war eine der
> einflussreichsten Künstlerinnen der Popgeschichte. Jetzt ist sie in New
> York gestorben.
Bild: Peter Christopherson und Genesis Breyer P-Orrdige beim Coachella Festival…
Genesis Breyer P-Orridge, am Samstag im Alter von siebzig Jahren an den
Folgen einer schweren Krebserkrankung verstorben, wurde als Neil Andrew
Megson in Manchester geboren. Zuletzt definierte er/sie sich als Angehörige
des dritten Geschlechts und lebte damit ein Experiment.
Von diesem Experiment zeugen die Artefakte, die sie hinterlassen hat –
wobei die wichtigsten Werke signifikanterweise jene sind, die mindestens so
viel der Kreativität ihrer Mitstreiter verdanken wie ihrer eigenen. Ihre
Band Psychic TV, mit der Breyer P-Orridge in den Jahren vor ihrem Tod
wieder tourte, hatte zuletzt den Charme einer etwas überlebten
Psychedelic-Rockgruppe.
Genesis P-Orridge, wie er sich seit den frühen 1970ern nannte, war als
Künstler der Performancegruppe COUM und als Sänger der Bands Throbbing
Gristle und Psychic TV in den 1980ern ein legendärer Typ und machte in den
1990ern durch das Pandrogynie-Projekt von sich reden.
## Geschlechtliche Angleichung mit Lady Jaye
Seine Frau Lady Jaye und er unterzogen sich einer Reihe von plastischen
Operationen, die darauf abzielten, sich äußerlich und geschlechtlich
anzugleichen. In den vergangenen zehn Jahren wurde Genesis Breyer P-Orridge
vor allem in queeren und popkulturellen Kreisen als Ikone gehandelt, deren
Verehrung Teilhabe an einem Radikalismus versprach, der weit über das
hinauszugehen schien, was Popkünstler heute noch verkörpern können.
Über subkulturelle Zirkel hinaus wurden COUM bekannt, als sie 1976 einen
Skandal verursachten, als sie in ihrer „Prostitution“-Ausstellung im
Londoner ICA pornografische Fotos des Gruppenmitglieds Cosey Fanni Tutti
und gebrauchte Tampons ausstellten. „Zerstörer der Zivilisation“, schmähte
sie ein britischer Parlamentsabgeordneter, und das wollten sie in gewisser
Hinsicht auch sein.
P-Orridge und seine Mitstreiterinnen bedienten sich fortan des
popkulturellen Vehikels einer Band namens Throbbing Gristle. Sie machten
sich zur Aufgabe, den von William S. Burroughs so benannten
staatlich-gesellschaftlichen „Kontrollprozess“ anzugreifen, der Gilles
Deleuze wenig später zu seiner Theorie der „Kontrollgesellschaften“
inspirierte.
## Entertainment through Pain
Auf der Bühne improvisierten TG, um jede Form von Unterhaltung zu
hintertreiben – „Entertainment through Pain“ lautete einer ihrer vielen
Slogans. Ihre „metabolic music“ zielte auf den Körper, während sich ihre
Öffentlichkeitsarbeit die Mechanismen der Massenmedien zunutze machte.
Throbbing Gristles Musik handelte also von Langeweile, Verblödung,
Massenmord, Selbstbestimmung, Sex und Medien. Auf der Bühne stellten sie
große Stroboskope auf, um ihr Publikum zu blenden. Auf fast
wissenschaftliche Weise experimentierten sie mit Frequenz und Rhythmus. Als
eine der ersten Pop-Bands nutzte die Band Loops und Samples und baute sich
selbst elektronische Klanggeneratoren.
Wo die Körper ihrer Hörer gezielt zu Adressaten von Manipulationen wurden,
thematisierte Bandmitglied Cosey Fanni Tutti die Verfügbarkeit von Frauen
und deren Sexualität. In ihrer vor einigen Jahren veröffentlichten
Autobiografie erzählte die Musikerin aber davon, dass Genesis P-Orridge
sie, als die beiden ein Paar waren, manipulierte, körperlich attackierte
und schließlich, als sie sich von ihm trennte, um ein Haar schwer verletzt
oder getötet hätte. Wobei unklar bleiben muss, ob es Absicht war, als er
beim Sonnenbaden einen massiven Stein nach ihr warf, der nur knapp neben
ihrem Kopf landete.
## Priester einer Glaubensgemeinschaft
Nach dem Ende von TG gründete P-Orridge mit anderen die Band Psychic TV und
den Temple ov Psychick Youth, der als dezidierter Anti-Kult und Parodie auf
organisierte Religionsgemeinschaften begann, sich bald aber selbst zur
autoritären Sekte wandelte. „Every man and woman is a star“, hatten Psychic
TV proklamiert, doch ihre Anhänger sollten ihre Individualität aufgeben.
Anfang der 1990er zog sich P-Orridge aus dem Temple zurück und ging in die
religionsfreundlichen USA, wo er offiziell als Priester einer
Glaubensgemeinschaft galt und als solcher zwei Ehen schloss.
Genesis Breyer P-Orridge war eine eminent einflussreiche Figur für die
Popkultur der 1970er und 1980er Jahre. Ihre Ambivalenzen und dunklen Seiten
erzählen uns davon, wie der Wille zur Überschreitung und zur radikalen
Freiheit jederzeit Gefahr läuft, missbraucht zu werden.
19 Mar 2020
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Nachruf
Popkultur
Queer
Industrial Music
US-Literatur
House
Politische Theorie
Schwerpunkt Berlinale
Rave
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