Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über widerständige englische Künstlerinnen: Drei Frauen, ei…
> Die britische Industrial-Musikerin Cosey Fanni Tutti beschreibt in ihrem
> Buch „Re-Sisters“, wie Erfindungsgeist von Frauen missachtet wurde.
Bild: Delia Derbyshire: britische Synthesizer-Pionierin und erste Frau im BBC R…
Eigensinn. Selbstbestimmung. Nonkonformität. Drei ungehorsame Frauen, drei
ungehörige Leben zwischen anfänglicher Ächtung und verspäteter Anerkennung.
Auf diesen Nenner lässt sich das neue Buch der britischen
Industrialmusikerin und Künstlerin Cosey Fanni Tutti bringen. „Re-Sisters.
The Lives and Recordings of Delia Derbyshire, Margery Kempe and Cosey Fanni
Tutti“ verknüpft Biografien dreier Engländerinnen vom 15. bis zum 21.
Jahrhundert: Die mittelalterliche Mystikerin Margery Kempe, die
Elektronikpionierin Delia Derbyshire und schließlich Christine Carol Newby
alias Cosey Fanni Tutti herself.
Drei Frauen mit bemerkenswerten Lebensläufen, die sich über Zeit und Raum
überlappen. Denn ihnen gemeinsam ist der renitente Widerstand gegen die
patriarchalische Ordnung. Ihr individueller Widerspruch gegen systematische
Disqualifizierungen und Entmündigungen in der Suche nach Selbstbestimmung
drückte sich aber nicht nur in einer nonkonformen, subversiven
Lebensführung aus, sondern insbesondere in dem, was Tutti als „recordings“
bezeichnet.
Damit gemeint sind die künstlerischen Spuren, welche die Frauen
hinterlassen haben. Im Fall von Kempe ihre gegen Lebensende um das Jahr
1430 entstandenen spirituellen Memoiren, welche als erste Autobiografie in
englischer Sprache gelten. Darin rekapituliert sie ihren Wandel von einer
wohlhabenden Kaufmannsfrau zu einer in Keuschheit und Armut lebenden „Braut
Jesu“.
## Gefährliche Pilgerreisen
Gegen alle Widerstände ihrer männlich dominierten Umwelt unternahm Kempe
auf eigene Faust entbehrungsreiche und gefährliche Pilgerreisen, etwa nach
Jerusalem und Santiago de Compostela. Eine Widerspenstige mithin.
Mehr noch, ihre mystischen Visionen, mit denen sie beanspruchte, direkte
Kommunikationen vom Herrgott höchstselbst zu empfangen, waren eine
Provokation für die Amtskirche, da man Frauen schlichtweg abstritt, Kontakt
mit den obersten himmlischen Instanzen aufnehmen zu können. Über
Jahrhunderte glaubte man das Manuskript des „Book of Margery Kempe“
verschollen, bis 1934 durch Zufall eine Abschrift in einer Bibliothek
gefunden wurde, bei der Suche nach einem anderen Buch.
Delia Derbyshire schuf in den 1960er Jahren wegweisende elektronische
Kompositionen: Ihre [1][Titelmelodie für die Sci-Fi-TV-Serie „Doctor Who]“
ist nichts weniger als der Beginn elektronischer Zukunftsmusik, an die
Künstler wie Kraftwerk später anknüpften. Doch man unterdrückte und
verleugnete Derbyshires Urheberschaft.
## Erste Frau im BBC-Radiophonic-Workshop
Was sie als erste Forscherin im elektronischen Studio „Radiophonic
Workshop“ beim Sender BBC im Alleingang [2][mit reichlich Erfindungsgeist],
extrem beschränkten technischen Mitteln und unter selbstausbeuterischer
Mühewaltung erschaffen hatte, wurde einem Kollegen zugeschrieben, der in
Urlaub gefahren war.
Ähnliche Schicksale ereilte ihre anderen Kompositionen, denn Derbyshires im
Radiophonic-Workshop-Studio entstandenen Werke wurden aus rechtlichen
Gründen nicht mit individuellen Urheberschaftshinweisen versehen. Arbeitete
sie mit einem Kollegen zusammen, schrieb man die künstlerische wie
handwerkliche Leistung allein ihm zu.
Führte man ihre Kompositionen zum Beweis ihrer innovativen Qualität vor,
beispielsweise bei einem BBC-Showcase in der Londoner Royal Albert Hall,
wurde Derbyshire nicht mit Namen erwähnt, sondern herabmindernd als
„findige junge Dame“ tituliert. [3][Derbyshire] starb 2001, ein Jahrzehnt
bevor das 50-jährige Unrecht der Ausradierung ihrer Autorinnenschaft
beendet wurde, im Alter von nur 64 Jahren.
## Leidvoller Emanzipationsprozess
Cosey Fanni Tutti schließlich, geboren 1951, hat ihren leidvollen
Emanzipationsprozess von männlichen Bezugspersonen, insbesondere ihrem
ersten Kunst- und Lebenspartner Genesis P-Orridge, bereits in der 2017
erschienenen Autobiografie „Art Sex Music“ beschrieben. Dennoch vermag sie
in „Re-Sisters“ noch ein erschütterndes Kapitel zu liefern, nämlich die
Schilderung einer von P-Orridge orchestrierten Vergewaltigung durch ein
Mitglied der britischen Performancegruppe COUM-Transmissions, die sie mit
P-Orridge gemeinsam gegründet hatte.
Dieser hatte, so beschreibt es Tutti in „Art Sex Music“, neben
fortdauerndem sexuellem Missbrauch und emotionaler Misshandlung, zwei
potenzielle Mordversuche unternommen. Folgen hatten diese Beschuldigungen
für den 2020 an Leukämie verstorbenen Künstler allerdings nicht; ab den
1990er Jahren war er aufgrund seines mit Jacqueline Breyer begonnen
„Pandrogynie“-Kunstprojekts Breyer P-Orridge zur Ikone der Transbewegung
avanciert (wenngleich er sich stets verwahrte als transsexuell
fremdidentifiziert zu werden).
Inwieweit sein Status P-Orridge vor einem Reputationsverlust als Täter
sexualisierter Gewalt schütze, steht als offene Frage im Raum. Es wird von
Tutti jedoch nicht explizit angesprochen. Ihr geht es in „Re-Sisters“ eher
um die Analogien zu Delia Derbyshires Los als verkannte Künstlerin: Etwa
wie die von Tutti gemeinsam konzipierten Kunstprojekte, samt der oftmals
von ihr allein zu verantwortenden Beiträge dazu, nicht nur wegen der
Interventionen von P-Orridge primär oder gar allein dem Mann zugeschrieben
wurden; aufgrund der unausgesprochenen Annahme, eine Frau könne allenfalls
in assistierender Weise beteiligt sein.
## Entmündigender Mechanismus
Dieser entmündigende Mechanismus galt bereits für die Skandalausstellung
„Prostitution“ (1976) im Londoner ICA, die unter der Federführung von Tutti
für COUM entstanden war. Darin hatte sie etwa ihre von Maden bevölkerten
gebrauchten Tampons zur Schau gestellt, was in der konservativen britischen
Presse Hetzkampagnen auslöste, deren Ausläufer bis ins Parlament reichten:
Ein Tory-Kronanwalt – er stellte sich später als Pädophiler heraus, der
Waisenkinder missbrauchte – verdammte die Performancegruppe als „wreckers
of civilisation“; dies reklamierte freilich P-Orridge für sich, so wie er
auch von der Londoner Tate Gallery angekaufte Kunstwerke Tuttis als seine
eigenen ausgab.
Die Hauptrollen in „Re-Sisters“ aber spielen Kempe und Derbyshire, denen
Tutti sich, um auf das Wortspiel im Titel zu kommen, schwesterlich
verbunden fühlt angesichts geteilter Disqualifizierungserfahrungen. Und
weil sie Widerständige, resisters also, in der [4][jeweils eigenen
Auseinandersetzung mit dem Patriarchat ihrer Zeit waren].
Ebenso geht es im Buch um die unberechenbaren Pfade, auf denen die
Hinterlassenschaften, recordings, der einen Vorläuferin wieder aus der
Versenkung auftauchen können, um als Echos im Leben und Schaffen der
Nachgeborenen fortzuwirken und auf diese Weise weiterleben zu können: als
Zeichen von Protest.
## Was ist Zufall?
Nicht zuletzt stellt „Re-Sisters“ das Konzept des Zufalls infrage. Ist es
ein „Zufall“, dass Kempe, vor mehr als 500 Jahren im ostenglischen Kings
Lynne geboren, also just in jener Kleinstadt, in deren Nähe Tutti mit ihrem
Partner Chris Carter gezogen ist, nachdem sich ihre Industrialband
Throbbing Gristle aufgelöst hatte?
War es ein „Zufall“, dass sie bei einer Buchpräsentation ihrer
Autobiografie der Regisseurin Caroline Catz begegnete, die einen
preisgekrönten Film über Leben und Werk von Delia Derbyshire drehen wollte
und ausgerechnet Tutti bat, den Soundtrack beizusteuern? Was also ist das
für eine unergründliche Strippenzieherei, die dafür sorgt, dass sich unsere
Leben mit dem längst verstorbener Menschen, denen wir nie begegnet sind,
verknüpfen können?
Aus dieser Frage ergibt sich für Tutti eine Antwort auf die nicht nur für
alle künstlerisch Tätigen zentrale Frage nach dem Sinn eigenen Tuns. Sie
zitiert eine markante Bemerkung von Derbyshire, die einem Kollegen
erklärte, warum sie trotz aller Frustrationen aufgrund mangelnder Würdigung
ihrer Kompositionen mit Experimenten elektronischer Klangerzeugung
fortfuhr: „Was wir gerade machen, ist an sich nicht wichtig, aber könnte
eines Tages dazu führen, dass jemand diese Arbeit fortsetzt, um etwas
Einzigartiges damit zu kreieren.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
26 Nov 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=CM8uBGANASc
[2] /Konzert-von-Suzanne-Ciani-in-Berlin/!5630578
[3] /Musikdoku-Sisters-with-Transistors/!5742021
[4] /Kunst-fuer-die-Komponistin-Eliane-Radigue/!5653721
## AUTOREN
Uwe Schütte
## TAGS
Industrial Music
Großbritannien
Feminismus
Architektur
Philosophie
Nachruf
CTM
## ARTIKEL ZUM THEMA
Österreichs erste Architektin: Naherholung gleich nebenan
Die Wohnung der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky in
der Nähe des Wiener Naschmarkts ist nun ein Museum. Wie lebte sie?
Buch zur Philosophie der Postmoderne: Die Gegenwart denken
Philosophie im Herrenclub: Daniel-Pascal Zorns „Die Krise des Absoluten“
erklärt den Kern des Denkens von Lyotard, Deleuze, Foucault und Derrida.
Nachruf auf Genesis P-Orridge: Unterhaltung durch Schmerz
Genesis Breyer P-Orridge von Throbbing Gristle, war eine der
einflussreichsten Künstlerinnen der Popgeschichte. Jetzt ist sie in New
York gestorben.
Eindrücke vom CTM-Festival Berlin: Böse Geister vertreiben
Ausgeschwärmt in Theater und Clubs: „Fear, Anger, Love“ ist Motto des 18.
CTM-Festival. Elektronische Musik, Filme und Performances.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.