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# taz.de -- Österreichs erste Architektin: Naherholung gleich nebenan
> Die Wohnung der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky
> in der Nähe des Wiener Naschmarkts ist nun ein Museum. Wie lebte sie?
Bild: Die Wiener Wohnung der Architektin Schütte-Lihotzky
An der Wand im Flur hängt ein weißer Klapphocker, im Eck ein schmales
Sideboard. Die Fläche ist knapp, aber optimal genutzt. Die aus Lampions
gefertigte Deckenleuchte und die blau-schimmernden Fliesen tauchen den Raum
in schlichten Glanz. Nachdem der Mantel im dezenten Einbauschrank verstaut
ist, darf die Wohnung auf eigene Faust erkundet werden.
Auch das Wohnzimmer besticht durch zurückhaltende Eleganz. Der Boden ein
kunstvolles Mosaikparkett, Wände und Decke in Waldgrün und zartem Beige
gehalten, anstelle des so verbreiteten kalten Weiß. Draußen prasselt der
Regen an die Fenster, drinnen aber wirkt es sonnig und warm. Am liebsten
würde man sich ein Buch aus dem Regal nehmen und es sich im Sessel (ein
Original aus den 1940er Jahren) bequem machen.
So wie die Frau, die hier drei Jahrzehnte lebte, bis sie 2000 im Alter von
102 Jahren starb: Margarete Schütte-Lihotzky. Sie war die erste Architektin
Österreichs, die meisten kennen sie jedoch als Erfinderin der Frankfurter
Küche, dem 1926 entwickelten Urtyp der modernen Einbauküche. Kompakt und
praktisch, um Arbeitsabläufe zu erleichtern, ohne dass die Ästhetik
darunter leidet. Dafür orientierte sich Schütte-Lihotzky an industriellen
Prozessen, nicht nur bei der Gestaltung der modularen Bauteile. Die
Küchenarbeit sollte möglichst effizient ablaufen, damit Hausfrauen weniger
Zeit dafür aufwenden müssen.
Auch die Küche ihrer langjährigen Wohnung hat Schütte-Lihotzky nach diesen
Prinzipien gestaltet. Doch ausgerechnet der Raum, der sie berühmt machte,
harrt noch (voraussichtlich bis 2023) auf seine Rückwandlung in den
Originalzustand. Er wurde von der Nachmieterin – einer Freundin der
Architektin – umgebaut. [1][Der Rest der 55-Quadratmeter-Wohnung, die sich
im 6. Stock eines grauen 60er-Jahre-Wohnhauses unweit des Wiener
Naschmarkts befindet], wurde seit dem Tod der Nachmieterin vor zwei Jahren
originalgetreu rekonstruiert. Seit Oktober ist sie öffentlich zugänglich.
„Schaut größer aus“, meint eine Besucherin. Das höre sie häufig, sagt
Renate Allmayer-Beck. Die Architektin hat den Umbau betreut und ist nun
häufig vor Ort, um Fragen zu beantworten. Schütte-Lihotzky habe ihre
Wohnung auf den Millimeter genau geplant. Kopien ihrer Zeichnungen liegen
auf einem kleinen Klapptisch. Jede Pflanze, jedes Paar Schuhe wurde in den
Plänen berücksichtigt. Das Bett tarnt sich tagsüber als Sofa (Bettzeug wird
in seitlichen Kästen versteckt), auch Einbauschränke und modulare Möbel
sparen knappen Wohnraum.
Viele Möbel haben die Räume nie verlassen. Dazu zählt etwa die
kupferfarbene Stehleuchte oder die mit grünem Kunstleder bezogenen
Thonet-Stühle am Esstisch. Anderes, wie die goldgelben Vorhänge oder die
gerüschte Esstischlampe (ein Entwurf von [2][Adolf Loos]), wurde
rekonstruiert oder aus Sammlungen geborgen. Ein besonderes Schmuckstück ist
der farbenfrohe kirgisische Wandteppich – ein Mitbringsel der weitgereisten
Schütte-Lihotzky. Alles sieht so authentisch aus, als würde sie jeden
Moment aus der Küche treten, um ihre Gäste willkommen zu heißen.
Seit 2021 steht die Wohnung unter Denkmalschutz – und damit erstmalig die
Privaträume einer Architektin oder eines Architekten, wie Renate
Allmayer-Beck erzählt. Bei den Arbeiten stützt sie sich nicht nur auf
Fotos. Sie kannte Margarete Schütte-Lihotzky persönlich, war oft bei ihr zu
Gast. Erstmals 1985, nachdem sie ihr Studium an der TU Wien abgeschlossen
hatte. Mit ihren revolutionären, emanzipatorischen Ideen war
Schütte-Lihotzky ihrer Zeit weit voraus. Sie engagierte sich in der
[3][Wiener Siedlerbewegung], die nach dem Ersten Weltkrieg günstigen
Wohnraum schuf, entwarf Kindergärten und Sozialbauten, plädierte für das
Anrecht alleinstehender Frauen auf Naherholungsraum: 33 Quadratmeter hat
die Terrasse ihrer Wiener Wohnung. Während der NS-Zeit schloss
Schütte-Lihotzky sich dem kommunistischen Widerstand an. Als einzige ihrer
Gruppe überlebte sie die vielen Jahre im Zuchthaus.
Verbittert war sie dennoch nie, sagt Renate Allmayer-Beck. Immer positiv
und lebensfroh. Auf einem Bild in ihrer Wohnung sieht man Margarete
Schütte-Lihotzky zufrieden lächelnd im Liegestuhl sitzend – in ihrem
Naherholungsraum, umringt von Grünpflanzen.
14 Dec 2022
## LINKS
[1] https://www.schuette-lihotzky.at/de/
[2] https://architectuul.com/architect/adolf-loos
[3] https://www.werkbundsiedlung-wien.at/hintergruende/siedlerbewegung
## AUTOREN
Verena C. Mayer
## TAGS
Architektur
Wien
Rotes Wien
Moderne
Ausstellung
Industrial Music
Wien
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