# taz.de -- Gutes Design und Wohnungen für alle: Wer hat's erfunden? | |
> Was nach skandinavischer Gestaltung ausschaut, stammt oft aus Wien. | |
> Caroline Wohlgemuth über Österreichs vergessene Avantgarde. | |
Bild: Pionier der Moderne: Der jüdische Wiener Architekt und Designer Josef Fr… | |
wochentaz: Frau Wohlgemuth, Ihr Buch trägt den Titel „Mid-Century Modern. | |
Visionäres Möbeldesign aus Wien“. Wie sind Sie auf das Thema gekommen? | |
Caroline Wohlgemuth: Mich faszinieren die 1920er und 1930er Jahre, die | |
Phase zwischen den beiden großen Kriegen. Wien erlebte damals eine | |
Hochblüte in Kultur, Wissenschaft, Kunst, Architektur und Möbeldesign. | |
Ein großer Komplex. Wie sind Sie vorgegangen? | |
Einer meiner liebsten Designer ist Josef Frank. Ihm widmete das Museum für | |
angewandte Kunst (MAK), 2015 eine schöne Ausstellung. Er hat in Wien zu | |
Beginn der 1920er Jahre an der Kunstgewerbeschule unterrichtet, also an der | |
heutigen Angewandten (Universität für angewandte Kunst in Wien; d. Red.), | |
und er hat den Österreichischen Werkbund mitbegründet. Um ihn herum begann | |
ich zu recherchieren. Es wurde eine immer größere Gruppe überwiegend | |
jüdischer Architekt:innen und Designer:innen. Sie haben das moderne | |
Wien damals geprägt und mussten es ab Mitte der 1930er Jahre verlassen, sie | |
wurden vertrieben und verfolgt. | |
Sie verwenden den Begriff Mid-Century Modern ausdrücklich für die Zeit in | |
Wien vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Fachliteratur gilt er eher für das | |
Design der Nachkriegsmoderne, also die Zeit nach 1945? | |
Den Begriff hat die US-amerikanische Journalistin Carla Greenberg in den | |
1980ern geprägt. Sie fasste darunter das moderne Möbeldesign der 1950er | |
Jahre. Die Nachkriegsmoderne war jedoch wesentlich von den Ideen der 1920er | |
Jahre beeinflusst. Josef Frank etwa emigrierte 1933 nach Schweden, wo seine | |
Entwürfe aus Wien durchgängig weiterproduziert wurden. | |
Er kehrte auch nach 1945 nicht nach Wien zurück? | |
Nein. Er war mit einer Schwedin verheiratet, Anna Sebenius, und wollte | |
nicht zurück. Es gibt von ihm 200 Entwürfe für Stoffmuster und über 1.000 | |
für Möbel und Lampen, die bis heute so oder so ähnlich in Schweden von der | |
Firma Svenskt Tenn hergestellt werden. Wenn man sich das so anschaut, | |
glaubt man vielleicht, es sei typisch schwedisches Design aus den 1950er | |
und 1960er Jahren mit lockeren Verbindungen zu Ikea. Doch vieles geht auf | |
das Wien der 1920er und 1930er Jahre zurück. | |
Was machte Wien um die Jahrhundertwende und dann in der Zwischenkriegszeit | |
für die Entwicklung moderner Lebensstile so attraktiv? | |
Adolf Loos oder Josef Hoffmann und Koloman Moser kennen heute viele. Moser | |
und Hoffmann gründeten die Wiener Werkstätten. Das Besondere an Wien war | |
die enge Verbindung von Künstlern zu Handwerkern und Manufakturen; die | |
Idee, gute, stabile und schöne Möbel preiswert für viele herzustellen. Das | |
reicht bis zu der Erfindung des Thonet-Stuhls zurück. Michael Thonet | |
entwickelte in Boppard Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verfahren, durch das | |
sich Holz biegen ließ. Mit der Übersiedlung nach Wien bauten er und seine | |
Söhne die Herstellung seriell aus. Vom 1859 entwickelten berühmten Stuhl | |
Nr. 14 sollen bis 1930 über 50 Millionen Exemplare verkauft worden sein. Er | |
war elegant und praktisch zugleich, ließ sich leicht verschicken und | |
zusammenbauen. | |
Vom rheinischen Boppard nach Wien und von dort in die Welt. | |
Um 1900 begannen viele Firmen wie Thonet oder auch Jacob & Josef Kohn mit | |
den besten Künstlern und Architekten, der konkurrierenden Gruppe um Loos, | |
Hoffmann und Moser zusammenzuarbeiten, um gute und formschöne Möbel zu | |
designen. In dem engen Zusammenwirken von industrieller Fertigung und | |
künstlerischer Gestaltung ist entstanden, was wir heute das moderne | |
Produktdesign nennen. Massenproduktion, aber für ein schönes Möbelstück. | |
Leistbar für alle. Die sogenannten Wiener Stühle reüssierten zunächst | |
weltweit in Restaurants, Kaffeehäusern und Theatern. Damit wurden sie auch | |
für zu Hause salonfähig. | |
Und die Wiener Werkstätten? | |
Die waren dann maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich Wiener Design als | |
moderne Marke positionieren konnte. Unter der Dachmarke Wiener Werkstätten | |
haben sich Designer, Handwerker, Tischler und kleine Manufakturen | |
zusammengeschlossen. Das war einzigartig und gab es so noch nicht. | |
Haben die alle an einem Ort produziert? | |
Nein, an vielen verschiedenen. Aber unter einem Verbund und einem | |
gemeinsamen Label, das für hohe Qualitätsstandards und gutes Design stand. | |
Sie entwarfen und produzierten alles von Teppichen über Keramik, Stoffe, | |
Papierwaren und Schmuck bis hin zu Lampen und Möbeln. In Wien war man | |
wiederum von der Arts-and-Crafts-Bewegung aus England beeinflusst. | |
Wie passte der Wille zu einem individuell und künstlerisch interessierten | |
Alltagsleben zum Kollektivgedanken der Arbeiterbewegung im „roten Wien“? | |
In Wien hat sich nach Ende des Ersten Weltkriegs vieles verändert. Loos und | |
Hoffmann gestalteten ihre Häuser und Einrichtungen vor dem Krieg sehr | |
luxuriös. Danach wurde neben Hoffmann und Loos eine jüngere Generation | |
aktiv, darunter auch die ersten Frauen. Architekten wie dem 1885 geborenen | |
Josef Frank oder Oskar Strnad ging es nicht mehr um den Bau von luxuriösen | |
Einzelhäusern oder Villen. Leistbarer Wohnraum für alle war das Thema. In | |
Wien gab es eine massive Wohnungsnot. Man musste mit wenigen Ressourcen | |
viel schaffen. Frank entwarf leichte, bunt lackierte, ergonomisch geformte | |
Möbel aus Holz für kleine Wohnräume. Friedl Dicker und Franz Singer | |
gehörten zu den ersten Designer:innen, die klappbare, stapelbare und | |
multifunktionale Möbel gestalteteten. | |
Parallel dazu gab es in der Weimarer Republik das Bauhaus. In Deutschland | |
entstand die „Frankfurter Küche“, der Prototyp einer modernen Einbauküche… | |
Die Frankfurter Küche wurde aber auch von einer Wienerin, Margarete | |
Schütte-Lihotzky, entworfen. Lihotzky war eine Schülerin von Josef Frank. | |
Sie hat in Wien an der Angewandten studiert. Neben Ella Briggs oder Liane | |
Zimbler gehörte sie zu den ersten weiblichen Architektinnen Österreichs. Es | |
waren eher Frauen, die sich überlegten, wie sich Berufs- und Familienleben | |
architektonisch besser vereinbaren ließen. | |
Wie hoch war der Anteil von Frauen an der Wiener Architektur- und | |
Designbewegung? | |
Es war zunächst wie überall auf der Welt: Erst nach dem Ersten Weltkrieg | |
waren die Unis auch für Frauen zugänglich. Nur an der Kunstgewerbeschule in | |
Wien durften Frauen schon wesentlich früher studieren: seit der Gründung | |
1868. An der Technischen Universität, wo im klassischen Sinne | |
Architekt:innen ausgebildet wurden, war das erst ab 1919 der Fall, an | |
der Akademie der bildenden Künste ab 1920. Aber besonders an der | |
Angewandten studierten sehr viele Frauen. Viele der arrivierten Männer | |
belächelten sie. | |
Aus welchen Milieus kamen diese Frauen? | |
[1][Aus dem modernen Bürgertum, darunter viele jüdische Frauen.] Ella | |
Briggs, Liane Zimbler, Friedl Dicker, Lisl Scheu Close oder Dora Gad waren | |
Jüdinnen. Die ersten dort ausgebildeten Architektinnen hatten es nicht | |
leicht. Deswegen haben sich so viele mit Möbeldesign beschäftigt und eher | |
nach innen gearbeitet. Ella Briggs und [2][Margarete Schütte-Lihotzky] | |
waren die zwei einzigen Frauen, die als Architektinnen für das „rote Wien“ | |
große Aufträge für Gemeindebauten bekamen. Sie konzipierten kleine, | |
platzsparende Wohnungen, in denen Möbel als Einbauten fest integriert | |
waren. [3][Multifunktionale Räume, irrsinnig gut durchdacht]. | |
Neben dem Überblick zu der modernen Wiener Design- und | |
Architekturgeschichte haben Sie den vergessenen Gestalter:innen | |
biografische Kapitel gewidmet. Darunter auch Friedl Dicker und Franz | |
Singer. Für das Buchcover verwendeten Sie deren Zeichnung „Entwurf eines | |
Gartenzimmers“. Warum ausgerechnet diese? | |
Mich fasziniert die Ateliergemeinschaft Friedl Dicker und Franz Singer | |
besonders. [4][Friedl Dicker war nach Ausbildungen in Wien] mit 21 Jahren | |
ans Bauhaus nach Weimar gegangen. Sie wurde dort zu einer | |
Lieblingsschülerin von [5][Walter Gropius]. Zurück in Wien betrieben sie | |
ihre Ateliergemeinschaft und gaben dem Bauhaus eine speziell wienerische | |
Note. | |
Was wurde aus Friedl Dicker und Franz Singer? | |
Franz Singer überlebte die Schoah in London, er kehrte nie wieder nach Wien | |
zurück wie auch alle anderen Mitarbeiter:innen der | |
Ateliergemeinschaft. Friedl Dicker wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sie | |
wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort hat sie Kindern Zeichen- | |
und Theaterkurse gegeben. Einer ihrer Schüler:innen versteckte 4.500 | |
Kinderzeichnungen in einem Koffer. Heute sind sie im Jüdischen Museum in | |
Prag. Friedl Dicker war auch Kunstpädagogin und hat versucht, das Leben der | |
Kinder durch Kunst etwas erträglicher zu gestalten. Heute kennt man Friedl | |
Dicker nur noch in Fachkreisen. Vielleicht ändert sich das jetzt. Ende | |
November [6][eröffnet im Wien Museum eine Ausstellung] zu ihr und dem | |
Atelier. | |
Durch die Flucht verstreuten sich die Ideen der Wiener Design-Avantgarde in | |
die ganze Welt. Wie ging es nach 1945 weiter? | |
Viele der aus Wien vertriebenen jüdischen Designer:innen wurden in | |
Amerika, England oder Schweden sehr erfolgreich und führten die Ideen aus | |
Wien fort. Wie etwa Liane Zimbler in Los Angeles. Ernst Lichtblau oder | |
Walter Sobotka unterrichteten Design und Architektur an US-amerikanischen | |
Universitäten und bildeten die nächste Generation aus. Bruno Pollak wurde | |
zu einem sehr gefragten Möbeldesigner Großbritanniens, Martin Eisler | |
Argentiniens und Brasiliens, Dora Gad zu einer der gefragtesten | |
Designer:innen Israels. Aber [7][kaum jemand kam nach 1945 zurück] nach | |
Wien. Es wurden [8][ihnen auch keine Angebote gemacht.] Das Wien, das sie | |
kannten, gab es auch nicht mehr. Im Nachlass von Liane Zimbler finden sich | |
Notizen, die zeigen, wie sehr sie darunter litt, dass das offizielle | |
Österreich sie nie kontaktiert oder eingeladen hat. Sie war sehr | |
erfolgreich, wurde 95 Jahre alt. Aus Österreich kam nichts. 1987 starb sie | |
in Los Angeles. Auch Josef Frank fühlte sich, so seine ehemalige Schülerin | |
und langjährige Weggefährtin Margarete Schütte-Lihotzky, zutiefst verletzt | |
von allem, was geschehen war. | |
13 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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