# taz.de -- Ausstellung zu Wiener Architekten: Vergessene Avantgardisten | |
> Von den Nazis verfemt, jetzt wiederentdeckt: Dicker und Singer. In Wien | |
> ist das vom Bauhaus beeinflusste Werk der beiden Architekten nun zu | |
> sehen. | |
Bild: Aus bunten Holzbauteilen kann man verschiedene Tiere zusammenstecken: Vö… | |
Mit der Ausstellung „Atelier Bauhaus Wien. [1][Friedl Dicker und Franz | |
Singer“] versucht das Wien Museum eine weitgehend vergessene Avantgarde ins | |
Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Eine in Kooperation mit dem | |
Bauhaus-Archiv Berlin realisierte Schau vermittelt erstmals einen | |
umfassenden Überblick über die Arbeiten des herausragenden Wiener | |
Architektenduos, das auch die Bauhaus-Bewegung mit geprägt hat. | |
Der von Franz Singer entwickelte Phantasus-Baukasten erinnert ein wenig an | |
den Matador früherer Kindheit. Aus einzelnen bunten Holzbauteilen kann man | |
verschiedenste Tiere zusammenstecken: Vögel, Schildkröten, Giraffen oder | |
Katzen. Doch anders als der Matador blieb das Spiel durch eine begrenzte | |
Anzahl an Stecklöchern zweidimensional. Es sollte die Fantasie der Kinder | |
anregen und deren Abstraktionsvermögen schulen. | |
Ein von einer technischen Mittelschule nachgebauter Baukasten lädt nun im | |
Wien Museum gleich am Eingang der Ausstellung zum Basteln und | |
Experimentieren ein. Ein Vergnügen, in dessen Genuss die Kinder vor 100 | |
Jahren nicht kamen. | |
Denn obwohl das Patent damals angemeldet wurde, ging der | |
Phantasus-Baukasten nie in Serie, wie Andreas Niehaus, Kurator der | |
Ausstellung erklärt. Die Idee war vom Schweizer Kunstprofessor Johannes | |
Itten ausgegangen, der ursprünglich in Wien lehrte und später unter der | |
Devise „Fest – Arbeit – Spiel“ die deutsche Bauhaus-Bewegung [2][zur | |
Spielzeugherstellung] animieren sollte. | |
## Aus dem Berliner Bauhaus-Archiv | |
Im Hauptraum der Ausstellung wird es technischer. Neben ein paar originalen | |
Möbelstücken sind vor allem Skizzen und Fotografien zu sehen, die fast alle | |
aus dem Berliner Bauhaus-Archiv stammen. Besonders bemerkenswert sind die | |
sogenannten Axonometrien, das sind Aufrisse der entworfenen Häuser und | |
Wohnungen, die Einblick in die einzelnen Zimmer gewährten. | |
Es sind Parallelprojektionen, die auf klassische Verzerrungen mit zwei | |
Fluchtpunkten verzichten. Man kann dabei die Raumdecke grafisch aufklappen. | |
Diese Art der Darstellung wurde zum Markenzeichen der Bauhaus-Gruppe. | |
Die Wiener Ausstellung ist nun chronologisch aufgebaut. Sie illustriert mit | |
Fotos und architektonischen Skizzen, wie nach dem Zusammenbruch der | |
Monarchie der radikale Bruch in Gesellschaft und Politik von einem | |
Neubeginn in Kunst und Architektur begleitet war. Schon während des Ersten | |
Weltkriegs hatte Johannes Itten in Wien eine private, von Reformpädagogik | |
geprägte Kunstschule eröffnet. | |
## Ittens Schüler kommen aus Wien | |
Im Jahr 1919 zog Itten auf Einladung von Walter Gropius mit seinen rund 20 | |
Schülerinnen und Schülern aus Wien nach Weimar. Im Atelier der | |
Bauhaus-Gruppe zog damit Unruhe ein. Itten brachte frischen Wind und neue | |
pädagogische Konzepte nach Weimar. Statt traditioneller Akt- und | |
Naturstudien war freies Schaffen angesagt. Einige der wenigen erhaltenen | |
Blätter aus dieser Zeit sind zu sehen. | |
Schnell übernahmen die Wiener das Kommando, wo Gropius Autorität vermissen | |
ließ. Die Malerin, Innenarchitektin und Designerin Friedl Dicker | |
(1898–1944) brachte mehr Farbe ins künstlerische Schaffen, in Mobiliar und | |
Raumentwürfe. Der gelernte Tischler Franz Singer (1896–1954) stellte das | |
Möbeldesign in den Vordergrund. Es entstanden multifunktionale Möbel, wie | |
Schränke, in denen sich stapelbare Sessel verbergen, Betten, die in | |
Podesten verschwinden, Sofas in kräftigen Farben. | |
Bald mischten sich antisemitische Untertöne in die Kritik an der Wiener | |
Gruppe. „Inländer“ standen gegen „Ausländer“, „Germanen“ gegen Ju… | |
Walter Gropius selbst, gerade von der Witwe Gustav Mahlers geschieden, | |
fühlte sich zum Ärger seiner deutschen Studierenden der weltoffeneren | |
Wiener Gruppe zugehörig. Der Konflikt eskalierte anlässlich einer Lesung | |
der [3][avantgardistischen Dichterin Else Lasker-Schüler] im Frühjahr 1920. | |
Es folgte der Auszug der „Germanen“. Ein Teil der Wiener Gruppe zog nach | |
Florenz. | |
Im Jahr 1923 endete das Gastspiel der Itten-Gruppe in Weimar. Unter den | |
Letzten, die der ehemaligen Thüringer Residenzstadt den Rücken kehrten, | |
waren Friedl Dicker und Franz Singer, die zunächst nach Wien zurückkehrten | |
und da die bereits Etablierten um die Wiener Werkstätte des Josef Hoffmann | |
und Koloman Moser provozierten. | |
[4][Zurück in Wien widmeten sich Dicker und Singer in erster Linie der | |
Möbelherstellung], mit der sie zwar das wohlhabende Bürgertum erreichten, | |
aber auch die praktischen Bedürfnisse der Arbeiterschaft berücksichtigten. | |
Zur Inspiration diente ihnen unter anderem die von der im Auftrag des | |
Frankfurter Stadtbauamtes tätigen Wienerin Margarete Schütte-Lihotzky | |
entwickelte Frankfurter Küche – eine auf kleinstem Raum funktionale | |
Einbauküche. | |
## Bauten von Dicker-Singer in Wien existieren nicht mehr | |
Bauten des Ateliers Dicker-Singer sucht man in Wien vergebens. Aber, wie | |
Museumsdirektor Matti Bunzl im Katalog schreibt: „Architektur ist | |
wesentlich mehr als die Bauten, die uns umgeben. Sie ist eine Form des | |
Denkens, Sprechens und Handelns. Sie ist der Versuch, den | |
gemeinschaftlichen Raum sinnvoll, effizient und ästhetisch zu verstehen, zu | |
erschließen und zu verändern.“ | |
Die wenigen Bauten, an denen Singer und Dicker in Wien beteiligt waren, | |
existieren nicht mehr und sind nur mehr durch zeitgenössische Fotografien | |
und Axonometrien dokumentiert. Das Tennisclubhaus im Bezirk Hietzing, eine | |
der ersten Gemeinschaftsarbeiten von Dicker/Singer, wurde schon 1935 | |
abgetragen. | |
An dem Umbau des Gästehauses des Ehepaars Auersperg-Hériot in der Nähe des | |
Praters war Franz Singer nur bei der Innenraumgestaltung beteiligt. Es war | |
dies sein letzter großer Auftrag in Wien. Haupthaus und Gästehaus wurden | |
1950 wegen irreparabler Kriegsschäden demoliert. | |
Die schnörkellose, gleichwohl luxuriöse Innenarchitektur der beiden | |
Prestigebauten ist durch Fotos dokumentiert. Ein Glasaufzug im Gästehaus | |
Auersperg-Hériot führt platzsparend innerhalb der Wendeltreppe auf die | |
Dachterrasse, eine mit Pflanzen gefüllte Fensternische vermittelt tropische | |
Atmosphäre. | |
Dass das Architekturduo nicht nur für betuchte Adelige und Finanzmagnaten | |
arbeitete, belegen die Entwürfe im Auftrag des Roten Wiens. Bürgermeister | |
Karl Seitz gab die Gestaltung eines Kindergartens in Auftrag. Bei der | |
Umsetzung zeigte der Sozialist Franz Singer seine soziale Ader. So ließ er | |
die Kindermöbel in einer Erziehungsanstalt für schwer erziehbare Buben | |
herstellen. | |
## Künstler ins Exil und ins Ghetto | |
Das Rote Wien endete mit dem Bürgerkrieg vom Februar 1934 und der | |
Errichtung des austrofaschistischen Ständestaates unter Engelbert Dollfuß. | |
Franz Singer folgte seiner Frau Emmy Heim nach London. Die Jüdin Friedl | |
Dicker zog zunächst nach Prag, wurde nach der Machtübernahme der Nazis mit | |
ihrem tschechischen Mann Pavel Brandeis ins Ghetto Theresienstadt | |
deportiert und 1944 in der Gaskammer von Auschwitz ermordet. In | |
Theresienstadt versuchte sie als Kunstlehrerin den Kindern den | |
schrecklichen Alltag zu erleichtern. Sie war Malerin und zudem ausgebildete | |
Pädagogin. | |
Sie inspirierte die Kinder, ohne sie dogmatisch in ihrem eigenen Malstil | |
auszubilden. Ein Teil der Kinderzeichnungen konnte gerettet werden. Den | |
Holocaust überlebende Schüler:innen erinnerten sich später an Friedl | |
Dickers Freundlich- und Großzügigkeit. Die Bilder der Kinder aus dem | |
Ghetto, von denen in der Wiener Ausstellung leider keine zu sehen sind, | |
wurden nach dem Krieg der jüdischen Gemeinde in Prag übergeben. | |
Ihre Ausstellung wurde zur Sensation und lenkte postum das Licht auf Friedl | |
Dicker. Die in Auschwitz Ermordete wurde selbst erst 1970 mit einer ersten | |
eigenen Ausstellung zu ihrem Werk gewürdigt – mehr als ein | |
Vierteljahrhundert nach ihrem Tod. Fritz Singer überlebte | |
Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, starb aber schon 1954 bei einem | |
Besuch in Berlin. | |
14 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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