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# taz.de -- Billy Braggs politischer Essay: Gifte gegen die Autoritäten
> Als Musiker mag Billy Bragg, der alte Mahner, auf der Stelle treten. Doch
> die politische Streitschrift, die er geschrieben hat, ist bereichernd.
Bild: Als politischer Autor zum Glück nicht so erwartbar wie als Musiker: Bill…
Im Song „The Milkman of Human Kindness“ aus dem Jahr 1983 bietet das
lyrische Ich des britischen [1][Punkpoeten Billy Bragg] seinem notorisch
vom Unglück gebeutelten Gegenüber eine breite Schulter. Mit seinem
Helfer-in-der-Not-Image hat sich der 63-jährige Singer-Songwriter über die
Jahrzehnte eine treue Fangemeinde erspielt. Während er musikalisch mit der
Zusammenführung von Joe-Strummer-Selbstermächtigung mit dem
Agitprop-Impetus eines Woody Guthrie seine Rolle als Mahner und Anprangerer
pflichtbewusst ausübt, wirken seine Einmischungen in die tagespolitische
Debatte in Großbritannien weitaus erfrischender, da schwerer ausrechenbar.
Mehrmals hat sich Bragg zum Brexit geäußert, die nationalistischen
Auswüchse der Tories beklagt, aber auch die destruktive Politik von Labour.
Weil ihn wurmte, wie freie Meinungsäußerung in Social-Media-Exzessen von
rechts ausgehöhlt wird, hat er mit „Die drei Dimensionen der Freiheit“ 2019
in Großbritannien eine Polemik in Buchform verfasst, die nun in deutscher
Übersetzung vorliegt.
Bragg stellt sich mit dieser Streitschrift in eine alte Tradition liberaler
Pamphlete und führt etwa Thomas Paines „Die Rechte des Menschen“ als
Vorbild an. Liberal definiert Bragg ausdrücklich nicht wirtschaftsliberal,
sondern als basisdemokratisches „Gegengift gegen die Macht von Autoritäten
und Algorithmen“. Manch Leser:in wird der Impetus an Stéphane Hessels
Streitschrift „Empört Euch“ erinnern.
## Freiheit, Gleichheit, Verantwortlichkeit
Das Fundament der funktionierenden Demokratie besteht nach Bragg aus
Freiheit, Gleichheit und Verantwortlichkeit. „Während Liberalität den
Einzelnen ermächtigt und Gleichheit nach Gegenseitigkeit verlangt,
verbindet Verantwortlichkeit diese beiden Aspekte miteinander, um ein
Umfeld zu schaffen, in dem Freiheit nicht länger von Verantwortung getrennt
ist“, schreibt Bragg.
Er unterscheidet ausdrücklich zwischen gesamtgesellschaftlicher
Verantwortlichkeit (accountability) und der Verantwortung des Einzelnen
(responsibility). Neoliberalismus und Globalisierung der Weltwirtschaft
hätten die Kraft der Demokratie und ihrer Regulierungsmechanismen
geschwächt. Mit Verantwortlichkeit könne auch ein Präsident Trump wieder
haftbar für seine Aussagen gemacht werden. Gleichheit interessiert Bragg
vor allem, weil in der Anonymität der digitalen Öffentlichkeit jeder das
Recht auf respektvolle Behandlung durch den Nächsten haben sollte – ein
hehrer Wunsch.
Bereichernd ist die Lektüre der 141 Seiten dann, wenn Bragg in seiner
Schilderung von den bekannten Prinzipien der Menschenrechte zu Details
übergeht. So erwähnt er etwa, dass Großbritannien (und zwar die viel
gescholtene Labour-Regierung Tony Blairs) erst 1998 die bereits 1950 vom
Europarat ratifizierte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in das
britische Verfassungsrecht (und somit die Rechtsprechung) aufgenommen hat,
um damit die Zivilgesellschaft und die Handlungsfähigkeit einzelner Bürger
zu stärken. Eine Entscheidung, die von den Konservativen sofort bekämpft
wurde.
Die Folgen sieht man jetzt: „Der Brexit ist Teil eines aktuellen Trends, im
Zug dessen Nationen den multinationalen Institutionen den Rücken zukehren,
die versucht haben, kollektive Lösungen für globale Probleme zu finden.“
## Die Fairness-Doktrin von 1949
Bragg mosert nicht nur, er unterbreitet auch Ideen: Um den Hass-Spiralen
der virtuellen Welt Einhalt zu gebieten, bringt er eine Fairness-Doktrin
ins Spiel, etwa vergleichbar mit jener Selbstverpflichtung, zu der sich ab
1949 die US-Aufsichtsbehörde von TV-und Radiosendern entschied, um
ausgewogene Meinungsvielfalt in Programmen zu garantieren. Zurückgefahren
wurde jene Doktrin erstmals von US-Präsident Reagan 1981. Seither haben
sich evangelikale Predigersendungen und rechtspopulistische Talkshows
endemisch ausgebreitet.
Was der Übersetzung leider fehlt, ist eine Einordnung für hiesige
Leser:innen. Das soll aber die Freude über diese Streitschrift nicht
schmälern.
10 Mar 2020
## LINKS
[1] /Songs-uebers-Bahnfahren/!5346103
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Politische Theorie
Schwerpunkt Brexit
Singer-Songwriter
Nachruf
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