# taz.de -- Ohne Orgasmus keine freie Gesellschaft: Die Angst vor der Liebe | |
> Für eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe. Dušan Makavejevs | |
> Film „W.R. – Die Mysterien des Organismus“ ist eine Hommage an Wilhelm | |
> Reich. | |
Bild: Milena Dravić, im Film eine jugoslawische Sexpol-Aktivistin, liest die P… | |
„Liebende Kameraden, fickt frei, eurer Gesundheit zuliebe! Der Krebs ist | |
die Hysterie von Zellen, die zum Tode verurteilt sind. Krebs und Faschismus | |
gehören zusammen. Der Faschismus ist ein Rausch sexuell verkrüppelter | |
Menschen!“ So spricht eine Stimme aus dem Off über Aufnahmen aus einem | |
sexualrevolutionären Aufklärungsfilm aus dem Jahr 1931. | |
So ist der Ton gesetzt für Dušan Makavejevs Film „W. R. – Die Mysterien d… | |
Organismus“, der zwischen 1968 und 1971 in den USA und Jugoslawien gedreht | |
und vor vierzig Jahren auf der Berlinale gezeigt wurde, weswegen er dort | |
nun wieder zu sehen ist. | |
„Die Mysterien des Organismus“ ist eine ernste, traurige, radikale, | |
humorvolle und lebensbejahende Hommage an Wilhelm Reich. [1][Dieser setzte | |
sich mit der Funktion des Orgasmus auseinander], weil er annahm, dass mit | |
jeder psychischen Erkrankung eine Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit | |
einhergehe. | |
Dieser Film ist ein Klassiker, der nichts von seiner Relevanz verloren hat, | |
abgesehen davon, dass niemand mehr an Revolutionen glaubt. Makavejev | |
vermerkt auf einer der Texttafeln, die den Film einleiten, Reich habe die | |
Wurzeln der Angst vor der Freiheit, vor der Wahrheit und vor der Liebe im | |
Menschen aufgedeckt. „Reich kämpfte für eine Arbeitsdemokratie, glaubte an | |
eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe.“ | |
So kann man das zusammenfassen. 1931 hatte Reich den Deutschen | |
Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol, gegründet. Aus | |
der KPD wurde er wegen seines Buches „Massenpsychologie des Faschismus“ | |
hinausgeworfen. Schon 1936 kritisierte er die reaktionären Entwicklungen im | |
Stalinismus scharf. | |
Die Kirche der Psychoanalytiker schloss ihn später unter anderem wegen | |
seiner Theorie der Lebensenergie aus, die er in Orgonakkumulatoren auf den | |
menschlichen Körper wirken ließ. In den späten 1950ern verbrannten die | |
amerikanischen Behörden seine Bücher und sperrten ihn ein. 1957 starb er | |
vor der Zeit, Opfer der Angst vor der Freiheit und der Liebe. | |
In den 1960ern hatten seine Ideen großen Einfluss auf die Studentenrevolte, | |
offenkundig nicht nur im Westen, sondern auch im sozialistischen | |
Jugoslawien, [2][wo sie unter anderem Dušan Makavejev inspirierten]. | |
1968 reist Makavejev in die USA, macht dort die Bekanntschaft des | |
anarchopazifistischen Poeten Tuli Kupferberg, der vier Jahre zuvor mit Ed | |
Sanders in New York die Band The Fugs gründete. „Fug“ ist ein Euphemismus | |
für „Fuck“, den Norman Mailer in seinem Buch „The Naked and the Dead“ | |
eingeführt hatte. Kupferberg spricht im Film aus dem Off Gedichte, und er | |
läuft, begleitet von Makavejevs Kamera, als Karikatur eines Soldaten durch | |
New York, „to bring the war home“. Es ist die Zeit des Vietnamkriegs. | |
Makavejev sucht für seinen Film die Stätte von Reichs Wirken in den USA | |
auf, es handelt sich um die Kleinstadt Rangeley in Maine. Er befragt dessen | |
Ehefrau Eva und Sohn Peter, aber auch den Barbier, der zugleich Sheriff im | |
Ort ist. Dieser berichtet: Reich war anders als die anderen. Er wollte | |
seine Haare nicht nach hinten, sondern nach oben gekämmt haben. | |
## Geil auf Sexszenen | |
Reich hatte ein doppeltes Problem. Er, der den Stalinismus früh kritisiert | |
hatte, seit 1939 in den USA lebte und nun Eisenhower wählte, galt als | |
Kommunist. Vielleicht noch schlimmer: Er befasste sich im prüden, | |
autoritären Amerika der Fünfziger mit Orgasmen. | |
Und so gab es viele Leute, die von Juden fantasierten, die auf Reichs | |
Anwesen Patienten in Organakkumulatoren masturbierten, und von Kindern, die | |
dort angeblich in Käfigen für Experimente gehalten wurden. FBI-Agenten | |
drückten sich mit ihren Ferngläsern in den Büschen rum, geil auf Sexszenen. | |
Stattdessen sahen sie nur Reich, der mit seiner automatischen Pistole auf | |
sie schoss. Der Staat agierte unerbittlich und verfolgte Reich wie einen | |
Staatsfeind. | |
Gut zehn Jahre nach Reichs Tod lässt der Film Kollegen und Schüler Reichs | |
zu Wort kommen und zeigt, wie Reichs Therapien in den USA weiterentwickelt | |
werden und die sexuelle Revolution befördern: leicht verstörende Aufnahmen | |
von Massentherapien, atmender, schreiender, Muskelspannung abbauender | |
Menschen, dazu das brutale schulmedizinische Gegenstück: die | |
Elektroschocktherapie eines Psychiatriepatienten. Zuvor waren chinesische | |
Massenveranstaltungen und Stalin zu sehen. | |
Hier also die unterdrückerischen Strukturen der autoritären, | |
sexualfeindlichen Gesellschaften, dort das demokratisch-befreite Strömen | |
der Lebensenergien. Eine junge Frau, die im Sinne Reichs behandelt wurde, | |
vor allem ging es um freies Atmen und um die Lockerung von Verpanzerungen | |
im Körper, gibt zu Protokoll: „Ich fühle mich sehr heiter, viel jünger und | |
viel lebendiger, sehr weich und ich bin mir vollkommen bewusst darüber, was | |
um mich herum geschieht. Ich habe keine Angst.“ | |
Auch Queerness und Intersexualität sind diesem filmischen Manifest eine | |
markante Fußnote wert. Die Idee der Gay Liberation war bereits virulent. | |
## Freiheit für das weibliche Volk | |
Gegen Ende des Films dominieren fiktive Szenen, die im zeitgenössischen | |
Jugoslawien spielen. Dort agitiert eine sozialistische Sexpol-Aktivistin | |
die Menschen in ihrer kommunalen Wohnanlage. Einer der Slogans ihrer | |
Bewegung, ironisch im Stil der alten kommunistischen Parolen vorgetragen, | |
lautet: „Tod dem männlichen Faschismus. Freiheit für das weibliche Volk! | |
Die Aktivistin verliebt sich schließlich in einen blonden, kräftigen und | |
recht hübschen Eiskunstläufer aus der Sowjetunion. Er, die Verkörperung der | |
Ideale des Kommunismus, kann mit ihrer Liebe und ihrem sexuellen Begehren | |
aber nichts anfangen. Enttäuscht klagt sie ihn an: „Du liebst die | |
Menschheit, kannst aber keinen individuellen Menschen lieben!“ Daraufhin | |
wird sie von dem „roten Faschisten“ aus Moskau geköpft. | |
20 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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