# taz.de -- Renaissance der Industrial-Music: Signalfarbe Schwarz | |
> Visuals und Sounds, Industrial und elektronische Musik: Unterwegs beim | |
> Festival „Berlin Atonal“ im Kraftwerk Köpenickerstraße. | |
Bild: Blick in die große Kraftwerkshalle beim Festival Berlin Atonal. | |
Samstagabend zur Primetime beim Festival „Berlin Atonal“ im ehemaligen | |
Heizkraftwerk in der Köpenicker Straße, Berlin-Kreuzberg: Vor der großen | |
Bühne sind um die 2.000 Zuschauer versammelt und goutieren die brachiale | |
Instrumental-Musik des italienischen Produzenten Alessandro Cortini. Viele | |
sind in Schwarz gekleidet, junge Leute in ihren Zwanzigern, auch in | |
größeren Gruppen. | |
Manche von ihnen liegen reglos auf dem Boden: Drop dead, sich tot stellen, | |
wie bei einer atomaren Ernstfallübung, auch wenn es aus den gigantischen, | |
von der Decke hängenden Lautsprecherboxen subsonisch wummert, in den Höhen | |
grell fräst, schliert und perkussiv prasselt und splittert, als würde eine | |
Güterzugladung Neonröhren auf ein Gleis gekippt. Selbst wenn von der | |
Leinwand über der Bühne ein kontinuierlicher Bilderfluss Bewegung und | |
Uptempo-Rhythmus suggerieren, bleibt das hippe Publikum merkwürdig still. | |
Schwarz, so will es diese wirkmächtige Renaissance von Industrial Music, | |
die derzeit in der Luft liegt, ist die passende Signalfarbe. Ein dunkler | |
Schlund, den Tunnelblick der Menschen versinnbildlichend. Mit dem | |
Unterschied, dass Industrial, einst Do-it-yourself-Sound am äußersten Rand | |
von Pop, als aufgepimpte elektronische Melange aus Post-Dubstep, Doom-, | |
Deathmetal und Berlin-Techno-Elementen nun Lifestyle-kompatibler wirkt: je | |
Piercing, desto Rasselbande. Da lacht auch die Tourismusbehörde. | |
## Scheinwerfer zu Schwertklingen | |
Aspekte der Performance sind, wie bei vielen Konzerten im Rahmen von | |
„Berlin Atonal“, ausgeblendet: Die Bühne um den Musiker-Laptop-Podest | |
bleibt meist im Dunkeln. Es geht um Visuals und Sounds. Angereichert mit | |
einer ausgeklügelten Lichtarchitektur, erzeugt von Suchscheinwerfern, die | |
den mehrstöckigen, innen ausgehöhlten Kraftwerkraum wie Schwertklingen | |
durchtrennen, und Spots, die mal aufgleißen, mal wegdimmen, sowie | |
Stroboskopblitze, die vorübergehend blind machen. Auch die Treppe ist Teil | |
dieser Raum-Erfahrung. Schattenprojektionen werfen Menschen-Silhouetten an | |
die Wand, die Treppenstufen hinauf und hinab schreiten. Das hat eine | |
Anmutung wie die Kulisse von Fritz Langs berühmtem Stummfilm „Metropolis“. | |
Dieser unglaublich seltsame Neoexpressionismus passt zur Neuauflage von | |
„Berlin Atonal“, einem Festival, das Dimitri Hegemann bereits in den frühen | |
Achtzigern aus der Taufe gehoben hat, damals noch in Westberlin und in der | |
Spätphase der Genialen Dilletanten. Was Party-Politics angeht, ist Hegemann | |
ein alter Fuchs. Zumindest hebt sich „Berlin Atonal“ deutlich vom | |
Branding-Overkill und Freizeitterror der kommerzielleren Festivals in der | |
Stadt ab. Hegemann und sein Festivalprogramm sind selbst Markenzeichen | |
genug, Hauptrolle spielt die Musik, in einem Gebäude, in dem nie mehr als | |
zwei Veranstaltungen zur gleichen Zeit stattfinden. | |
## Teestube im Vorgarten | |
Anstelle einer Fressbudenmeile gibt es drei Streetfood-Trucks und eine | |
Teestube vom Detroiter Zen-Kloster in einem improvisierten Gärtchen vor dem | |
Eingang. Auch die Kunst sprengt Vorstellungen von dem, was ein | |
Rahmenprogramm leisten kann: etwa die Mobiles des Franzosen Pierre Bastien, | |
„Mechanology in 4 Rooms“, die im Keller zum Verweilen einladen: | |
Raumgreifende Skulpturen mit Teekanne und Aschenbecher, angetrieben von | |
Zahnrädern, erzeugen einen „kinetischen Sound“. Wenn es still ist zwischen | |
den Tracks, hört man die Zahnräder im Keller mahlen und rattern. | |
Während die Technik perfekt funktioniert, läuft musikalisch an den | |
Festival-Tagen nicht immer alles rund. Der mit Spannung erwartete Auftritt | |
des US-Synthesizer-Pioniers David Borden am Mittwoch enttäuscht auf ganzer | |
Linie. Auch weil Borden seinen Sohn mit auf die Bühne bringt, der im | |
Muscle-Shirt Gitarrensoli zu den barocken Synthesizer-Melodien des Vaters | |
gniedelt. Das weckt scheußliche Erinnerungen an die Mesalliance von New Age | |
und Progrock in grauer Vorzeit. | |
Auch die Musik von Chra – Christina Nemec –, eine der wenigen Künstlerinnen | |
im Festivalprogramm, kommt mit ihren in Superzeitlupe zerdehnten | |
Field-Recording-Samples nur schwer gegen das Ambiente des Kraftwerks an. | |
Allerdings muss die Wienerin auch den undankbaren Posten des | |
Auftaktkonzerts am Donnerstag bestreiten, erst gegen Ende ihres Auftritts | |
schält sich ein memorabler Beat aus dem Noise-Maelstrom und tastet sich | |
durch das Gebäude. Und der crispe Beat wächst und lässt auf mehr hoffen. | |
## Die Neo-Industrial-Kids beginnen ergriffen zu tanzen | |
Gut ist es, wenn dem monochromem Industrial-Schwarz zusätzliche Farben | |
beigemischt sind. Hegemann hat in den frühen Neunzigern die Achse | |
Detroit/Berlin mit seinem Club Tresor mitbegründet. Das toughe House- und | |
Techno-DJ-Set von John Collins aus Detroit in der Nacht von Freitag auf | |
Samstag nimmt diese Traditionslinie auf. Beim Sound des House-Klassikers | |
„Rhythm is Rhythm“ beginnen die Neo-Industrial-Kids ergriffen zu tanzen. | |
Getanzt wird zur Musik von Tony Conrad und Faust am Samstagabend nicht. | |
Eher führt die Wiederaufführung ihres Albums „Outside the Dream Syndicate“ | |
(1972) zur Erstarrung. Der US-Filmemacher und Violinist, in weißem Anzug | |
und schwarzem Hut mit breiter Krempe, lässt sein elektrisch verstärktes | |
Instrument einen einzelnen Ton spielen. Minutenlang sägt die Säge einen | |
Ton, dann zwei, nach etwa 15 bis 20 Minuten drei. | |
Irgendwann steigen Faust ein, Jean Hervé Perron am Bass und Zappi Diermaier | |
an den Stehdrums. Beat und Groove halten sie kaum. Es klingt eher, als | |
kämen sich die Umlaufbahnen von drei Planeten näher und landen dann doch in | |
ihren je eigenen Klanguniversen. Wobei Conrads Geigendrones für sich | |
genommen einzigartig klingen. Und doch ergibt die Performance Sinn, weil | |
sie den maschinellen Klangerzeugern von heute menschliche | |
Unzulänglichkeiten entgegensetzen, getreu dem Motto: „Atonal“. | |
26 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
Festival Berlin Atonal | |
Faust | |
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House | |
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