# taz.de -- Montagsinterview mit Matthias Lilienthal: „Berlin ist immer auf d… | |
> Matthias Lilienthal gehört zu den Gewinnern des diesjährigen Berliner | |
> Theatertreffens. Gleich zwei Produktionen des HAU sind dort vertreten. | |
Bild: Matthias Lilienthal | |
taz: Herr Lilienthal, als ich vor zehn Jahren Theaterredakteurin bei der | |
taz wurde, leiteten Sie das Theater der Welt im Rheinland. Dann wurden Sie | |
Intendant am HAU in Berlin. Ihre Arbeit, die Suche des Theaters nach einer | |
größeren Annäherung an die Realität, war für mich immer ein wichtiger | |
Orientierungspunkt. Jetzt machen Sie eine unerwartete Bewegung: Sie gehen | |
nach Beirut. Hat das wieder mit dem Gefühl zu tun, näher an die Realität | |
ranzuwollen? | |
Matthias Lilienthal: Für mich ist es einfach gut, ein Jahr aus der Stadt zu | |
kommen. Während des Studiums hatte ich nie Gelegenheit für zwei | |
Auslandssemester, das hole ich jetzt in hohem Alter nach. | |
Warum Beirut? | |
Wir haben hier viele Programme mit der Beiruter Szene gemacht, erst „Middle | |
East News“ mit Catherine David. Seit „Theater der Welt“ arbeiten wir mit | |
Rabih Mroué, der hier das Festival „2.732 Kilometer from Beirut“ kuratiert | |
hat. Seine Frau, Lina Saneh, organisiert in Beirut die Ausbildung von | |
Postgraduate-Studenten der Bildenden Künste. Direkt neben dem Beirut Art | |
Center – das vergleichbar ist mit den Berliner KunstWerken – liegt der Raum | |
für junge Künstler, ideal, um eigene Werke zu produzieren. Mit 15 dieser | |
jungen Künstler werde ich für zehn Monate an ihren Projekten arbeiten, | |
versuchen, sie mit bestimmten Positionen bekannt zu machen. | |
Vergangenes Jahr hat sich im arabischen Raum so viel politischer Aufbruch | |
und Mut gezeigt, wie man es jahrelang nicht für möglich hielt. | |
Mich interessiert durchaus auch, in der Zeit dort an einem Festival über | |
die Veränderungen in der arabischen Welt zu arbeiten. Für mich ist es eine | |
Möglichkeit, den Kopf mal durchlüften zu lassen und nicht jeden Abend | |
Gastgeber bei einer Premiere zu spielen. | |
Kurz vor Ihrem Weggang wurden zwei Produktionen zum Theatertreffen | |
eingeladen, an denen das HAU als Produzent entscheidend beteiligt ist: | |
„Hate Radio“ von Milo Rau und „Before your very eyes“ von Gob Squad. Ist | |
das ein super Abschied? | |
Ich finde, das ist eine Auszeichnung der Arbeit vom HAU. Das Theatertreffen | |
hat auch eine richtige Entscheidung getroffen, sich gegenüber der freien | |
Szene zu öffnen. Ich hoffe, auch in Zukunft werden 20 bis 30 Prozent der | |
eingeladenen Stücke aus dieser Szene kommen. | |
Beide Projekte sind durch internationale Koproduktionen zustande gekommen | |
und mehrsprachig. In „Hate Radio“ wird Französisch und Kinyarwanda | |
gesprochen, in „Before your very eyes“ Englisch und Flämisch, | |
Übertitelungen und Übersetzungen ins Deutsche oder Englische sind Teil der | |
Ästhetik. Sehen Sie die Einladungen auch als ein Signal für mehr | |
Internationalität im deutschen Theater? | |
Austausch und Zusammenarbeit werden für die nächsten Jahre zunehmend | |
wichtiger, egal wie die Struktur eines Theaters bisher ist. Der | |
Grundgedanke des Stücks „Before your very eyes“ ist: Acht- bis zwölfjähr… | |
Kinder spielen ihr ganzes Leben durch. Das hat einen extremen Reiz. Da ist | |
eine große Vitalität entstanden und viel Raum für Wechsel der Blickwinkel. | |
Ob das in Englisch oder Deutsch passiert, das ist langsam wurscht. Gob | |
Squad ist durch und durch eine Berliner Gruppe, die zur Hälfte aus Menschen | |
besteht, die in erster Linie Englisch sprechen. | |
Sie gelten als Mann für schwierige Fälle. Trotzdem frage ich mich, wie man | |
als Intendant den Mut findet , ein Projekt wie „Hate Radio“ zu | |
unterstützen: Ein junges Regie- und Dramaturgenteam fährt dafür nach | |
Ruanda, um über den Krieg zwischen Hutu und Tutsi zu recherchieren, der im | |
Land tabuisiert ist. Das ist doch mit vielen Unwägbarkeiten belastet, der | |
Erfolg war nicht vorhersehbar. | |
Realitäts- und Dokumentartheater ist ein großes Thema des HAU. Na ja, der | |
Hauptstadtkulturfonds fand Milo Raus Konzept interessant, die anderen | |
Koproduzenten … Auf eine komische Art ist das der Luxus, den sich Häuser | |
wie das HAU relativ einfach leisten können. Unser großer Vorteil ist, dass | |
wir in der dritten Reihe sitzen. Die Medien und die Menschen freuen sich, | |
wenn etwas zustande kommt. Aber wir werden fast nie geprügelt, wenn etwas | |
ein bisschen misslingt. Wir konnten meistens in aller Ruhe fummeln. Seit | |
Anfang des Jahres ist das etwas anders geworden: Seitdem ist alles | |
ausverkauft. Wir haben das Gefühl, die Stadt möchte das HAU mit dem | |
jetzigen Team noch mal genießen. Aber man merkt auch, dass die Latte auf | |
einmal eine Stufe höher hängt. | |
Ihre Nachfolgerin, Annemie Vanackere, hat lange in Rotterdam gearbeitet. Da | |
wird die Kultur stark beschnitten, ab 2013 wird ein Viertel der | |
Kultursubventionen gestrichen. Gleichzeitig hat in Deutschland das Buch | |
„Der Kulturinfarkt“ große Aufregung ausgelöst. Dessen Autoren schlagen vo… | |
die Hälfte der Museen und Theater zu schließen, damit die andere Hälfte | |
beweglicher wird. Muss man nicht befürchten, dass sich die Politik dieser | |
Argumentation annimmt? | |
Es gibt doch von Carl Spitzweg das berühmte Biedermeier-Gemälde „Der arme | |
Poet“. In der Diskussion mit Politikern begegnen einem oft Metaphern, die | |
sehr an dieses Bild erinnern. Bei jedem Unternehmen in der | |
Kommunikationsbranche ist klar, dass Menschen, die gut versorgt werden, | |
bessere Arbeitsergebnisse zustande bringen als unter Druck und unter Not. | |
Nur für Künstler wird das Gegenteil angenommen. Für mich ist „Der | |
Kulturinfarkt“ eine Reproduktion dieses zutiefst kultur- und | |
intellektuellenfeindlichen, reaktionären Schemas. | |
Die Autoren kritisieren, dass sich die Kunst zu wenig am Markt bewähren | |
muss. | |
Den Glauben an den Markt als eine der Kunst förderliche Basis teile ich | |
nicht. Berlin steht wegen der städtischen und staatlichen Subventionen so | |
blendend da in der Welt, als kreative Stadt. Wenn man in New York Taxi | |
fährt, hört man im Radio einen Bericht über die großartige Stadt Berlin mit | |
den drei Opernhäusern. Das wird als kulturelles Paradies gesehen – das ist | |
der größte Image-Faktor, den die Stadt hat. | |
Trotzdem bleibt die Frage, wie man die Mittel in der Kultur wieder | |
beweglicher bekommt. | |
Wenn es der Politik nicht zusteht, künstlerische Leistungen von | |
Institutionen zu bewerten, dann läuft das auf eine Ewigkeitsgarantie für | |
alle Institutionen hinaus. Und das ist nicht richtig. Doch selbst wenn man | |
gesehen hat, dass ein Theater, ein Museum sich überlebt hat, und man es | |
schließen will – solange es BAT-Stellen gibt, sind die Beschäftigten | |
trotzdem geschützt. Durch das Arbeitsrecht wird die Ewigkeitsgarantie also | |
indirekt wieder eingeführt. Insofern steckt in „Kulturinfarkt“ ein ernst zu | |
nehmender Anstoß: dass man drüber nachdenken muss, wie man Mittel innerhalb | |
des Kultursektors freibekommen kann, in dem man auch mal was infrage | |
stellt. Um die Mittel für neue künstlerische Projekte zur Verfügung zu | |
stellen. | |
Bernd Neumann, der Staatsminister des Bundes für Kultur, hat bei der | |
Eröffnung des Theatertreffens betont, man wolle kein Theater schließen. | |
Trotzdem bleibt die Angst. | |
Die Gefahr, dass der Funke überspringt, ist extrem groß. In den | |
Niederlanden ist es der Fall; die gleiche Diskussion beginnt in Belgien. | |
Man darf nicht die Debatte nicht vergessen, die in Mecklenburg-Vorpommern | |
tobt: Sicher aus einer großen Not heraus werden die Theater in Rostock, | |
Schwerin und weiteren Städten infrage gestellt. Mir kommt das immer | |
merkwürdig vor, weil es in der Summe minimale Beträge sind und selten | |
wirklich etwas spart. Deswegen halte ich es auch für notwendig, dass | |
Kulturschaffende und Politiker in einen Dialog darüber eintreten, wie wir | |
vernünftige Prozesse der Erneuerung schaffen. | |
Von wo könnte denn so ein Dialog ausgehen, wer sollte den starten? | |
In Berlin vom Kulturstaatssekretär André Schmitz und mir, exemplarische | |
Gestalten aus der Kulturszene und der Verwaltung. Das ist natürlich ein | |
wahnsinniges Tabuthema, weil es ein klares und sinnvolles Verbot gibt, über | |
die Finanzierung von anderen Künstler zu urteilen. Sich solidarisch zu | |
verhalten, ist die Spielregel. Es gibt ja jetzt von den Grünen einen | |
Vorschlag zur Umverteilung: Ein Prozent von dem, was die Institutionen | |
bekommen, soll an die freie Szene gehen … | |
Das finden Sie richtig? | |
Das finde ich Blödsinn. Die Volksbühne pfeift aus dem letzten Loch, wir | |
pfeifen aus dem letzten Loch. Ich sehe nicht, dass es grandiose | |
Überfinanzierungen gibt. Deshalb scheue ich die Umverteilungsdebatte. Wenn | |
es der Wirtschaft nur ein Viertel so gut ginge wie dem kulturellen Sektor | |
der Stadt, wenn auch nur ein Viertel so viel Professionalität dort zu Hause | |
wäre – dann würde es der Stadt deutlich besser gehen. | |
Für Ihren Abschied haben Sie große Projekte geplant. Als ich gelesen habe, | |
dass Sie den Roman „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace zur | |
Grundlage einer Theaterperformance machen wollen, dachte ich: Das kann | |
nicht funktionieren. Der Roman ist schließlich nicht nur berüchtigt ob | |
seiner Länge und der vielen Fußnoten, sondern auch ob der vielen | |
rätselhaften Bilder. Was hat Sie denn da geritten? | |
Das waren verschiedene Punkte. Ich suchte nach Projekten, bei denen ich | |
viele von den Performern zusammenbringen kann, mit denen wir insgesamt neun | |
Jahre lang zusammengearbeitet haben. Das HAU war auch immer ein Haus der | |
extremen Überforderung, das habe ich von Frank Castorf gelernt, dem | |
Intendanten der Volksbühne. Deshalb die Idee, die Überforderung von den | |
1.500 Seiten des Romans zu nehmen und zu übersetzen in 24 Stunden | |
Performance hintereinander. | |
Mit dem Roman ziehen Sie aus dem Theater aus? | |
Im Gespräch mit Raumlabor, einer Gruppe von Künstlern und Architekten, | |
tauchte gleich der Gedanke auf, dass die Langeweile, die im Roman den | |
mittleren Osten der USA prägt, eine Entsprechung finden kann in der | |
Langeweile der Peripherie Westberlins. Dort, etwa in Gropiusstadt oder | |
Zehlendorf, habe ich den Eindruck, dass sich seit 1989 nichts verändert | |
hat, nichts passiert ist. Wir sind zum Beispiel in Kontakt mit dem | |
Tennisclub Rot-Weiß, dessen Steffi-Graf-Stadion in Grunewald mit 7.500 | |
Plätzen im Bewusstsein der Stadt überhaupt keine Rolle spielt. In dem Roman | |
„Unendlicher Spaß“ bestehen die USA ja zur einen Hälfte aus scheinbar | |
leistungsorientierten Menschen an einer Tennisakademie und zur anderen aus | |
Drogenabhängigen. Am Ende merkt man, dass eigentlich alle drogenabhängig | |
sind, ob Tennisstars oder Junkies. Und die Stadt Berlin ist auch immer auf | |
der Suche nach dem letzten Kick, wie alle Protagonisten aus dem Roman auch. | |
Deshalb passt das. Natürlich kann man sich mit dem Ding eigentlich nur auf | |
die Fresse legen. | |
Wird noch mehr Westberlin zum Schauplatz? | |
Es soll eine Reise werden über den Teufelsberg, Rot-Weiß, die Tierklinik | |
Düppel und das Krankenhaus Neukölln bis zum Finanzamt Reinickendorf. Im | |
West- und Ostberlin der siebziger und achtziger Jahre gab es eine Lust an | |
utopischer Architektur. Man kann nur staunen, welche Träume trotz der | |
angespannten politischen Situation damals möglich waren. Diese Architektur | |
ist jetzt oft sanierungsbedürftig oder steht vor dem Abriss. Schon deshalb | |
lohnt sich ihre Sichtung. | |
Das zweite Projekt ist eine „Weltausstellung“ auf dem Tempelhofer Feld. | |
Warum gerade dort? | |
Das Ding heißt „The world is not fair – Die große Weltausstellung 2012“. | |
Das ist eine performative und bildende Kunstausstellung in 15 Pavillons. | |
Die Stadt hat sich extrem verändert. Der Ku’damm und Unter den Linden sind | |
ja tot, das Stadtzentrum ist der Hermannplatz, und der Flanierboulevard der | |
Stadt ist die Start- und Landebahn von Tempelhof geworden. Jeden Sonntag | |
sind da zwischen 30.000 und 50.000 Menschen unterwegs, die skysurfen, | |
Skateboard fahren, Rad fahren. Die größte Demonstration von | |
vergnügungssüchtigen Menschen im Mai und Juni findet doch eindeutig auf der | |
Start- und Landebahn statt. Dort findet man die Berliner. | |
13 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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Politisches Theater | |
Münchner Kammerspiele | |
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