# taz.de -- Dokumentartheater über Flucht: „In der Nähe lagen Körper“ | |
> Die Bremerhavener Dokumentar-Theatergruppe „Das Letzte Kleinod“ hat sich | |
> mit dem Thema Flucht befasst – und reist selbst von Ost nach West. | |
Bild: Wenn die Dokumentartheater-Gruppe „Das letzte Kleinod“ unterwegs ist,… | |
Vier rostblühende Relikte des Vor-Container-Zeitalters: Stockdunkel, mit | |
spärlich-effektiven Grusellichtakzenten, stehen die Eisenbahnwaggons da, | |
eindrucksvolle Kulissen und intime Kammerspielbühnen zugleich, inklusive | |
Holzbänkeparkett. In Geestenseth bei Bremerhaven sind sie aufgebrochen, um | |
den Komplex Vertreibung und Flucht theatral bewegend auflodern zu lassen – | |
auf einer Tour, 2.800 Kilometer und zweieinhalb Monate lang. | |
Für Das Letzte Kleinod, diese selbst erklärte „European Railway Theatre | |
Company“, hieß es erst mal: raus aus der Komfortzone. Die Proben starteten | |
mit einem Zeltlager im niedersächsischen Nirgendwo, und in einem Kühlhaus | |
sollten –30 Grad die Fluchtbedingungen im weltkriegswinterlichen Ostpreußen | |
simulieren. Das Team bewanderte ein Haff nahe Danzig und fuhr mit dem Boot | |
hinaus, um etwas zu erfahren von der Weite und von den Entfernungen, die | |
damals auf der Flucht vor der Roten Armee so viele Deutsche zurücklegten, | |
und deren allerletzte Möglichkeit – per Schiff über die Ostsee. In einem | |
Kaliningrader Villawrack wiederum ging man auf die Suche danach, wie es | |
sich anfühlt, in eine total zerstörte Stadt zu kommen. | |
Die Truppe verdichtete Zeitzeugenberichte, die Regisseur Jens-Erwin | |
Siemssen und Dramaturgin Zindi Hausmann mit Menschen in Litauen, Russland, | |
Polen und Deutschland geführt haben: Über ihre Wanderungen in den letzten | |
Kriegs- und den ersten Nachkriegsjahren. Über das, was Millionen damals | |
trieb – eine heranrückende Gefahr, die so viel größer erschien als die, die | |
vor einem lag. | |
Einfühlsam hat Siemssen eine narrative Struktur entwickelt, die die | |
Gemeinsamkeiten von Fluchtsituationen verdeutlicht. Die Zeitzeugen, die | |
sich in der Realität ja nie begegnet sind, im Stück „Flucht/Ucieczka“ | |
wachsen sie zu einer Gruppe zusammen. Es geht gerade nicht um individuelle | |
Schicksale, also tauchen die O-Ton-Gebenden weder im Programmheft auf noch | |
im Stück selbst. „Es geht um die Essenz“, sagt Siemssen. | |
Schwer erträgliche Intensität | |
Der Bremerhavener war schon immer von Auswanderung fasziniert, hat das | |
Thema immer wieder aufbereitet. Jetzt zeigt er im ersten Waggon das | |
Erwachen eines russischen Kindes in einem Dorf, das die deutsche Wehrmacht | |
eingekesselt hat: „Eines Tages kam ich von der Schule zurück und in der | |
Nähe der Banja lagen Körper … ein abgeschnittener Kopf eines Mädchen.“ D… | |
hämmern die Kleinod-Roadies mit Steinen an den Waggon, ein Techniker bringt | |
ihn ins Schwanken, lässt ihn gegen einen Bremsklotz krachen – Theater in 4 | |
D. | |
Im nächsten Wagen werden die Zuschauer Zeugen, nein nicht von den | |
Vergewaltigungen, aber den Berichten darüber. Dann berichtet ein Litauer | |
über wachsende Ascheberge – die Überreste verbrannter jüdischer | |
Pogromopfer. Im letzten Wagen wird in nur schwer erträglicher Intensität | |
verdeutlicht, wie Menschen sich vor einem herannahenden Feind nur noch | |
durch kollektiven Selbstmord glauben retten zu können. Ein Kind aber traute | |
sich nicht, es überlebte – und sitzt nun, 70 Jahre später, bei der | |
Aufführung in Frankfurt/Oder, mitten in der Szene. Im Verlauf der | |
Theaterreise von Ost nach West, von Gdynia zurück nach Geestenseth, lernen | |
die Schauspieler nach und nach jene kennen, die Vorbild standen für ihre | |
Rollen. | |
## Reibung von Sprache und Spiel | |
Das Faszinierende am Inszenierungsstil ist die Reibung von Sprache und | |
Spiel: Der Text kommt im Erzähltonfall bemühter Sachlichkeit daher, die | |
Urheber sind ja heute 80, 90 Jahre alt. Die Körpersprache transportiert | |
eine Kinderperspektive, aus einer naiven Verspieltheit heraus. Erschwert | |
wird das Verständnis allenfalls durchs Sprachgewirr: Bei den Stationen in | |
Polen spielte man auf Polnisch, in Deutschland auf Deutsch. Das Ensemble | |
castete man hier wie dort, die jeweils fremde Sprache eigneten sich die | |
Schauspieler teilweise nur phonetisch an. | |
Eingebunden sind die vier Kernszenen in einen recht langen Prolog und einen | |
präzise vernachdenklichenden Epilog. Draußen werden Kindheitserinnerungen | |
der Figuren getanzt, getollt, gesungen. Siemssen lässt sich da einiges | |
einfallen – um breitwandig stets die ganze Front von vier Waggons zu | |
bespielen. | |
Nach und nach stören Einbrüche des Kriegsalltags die idyllischen Szenen. | |
Ein Gitarrist und Akkordeonist spielen immer wieder volkstümliche Melodien | |
an – und zerhackstücken sie dann wie einst Jimi Hendrix die amerikanische | |
Nationalhymne. Zusammen mit einer „Der Krieg ist vorbei“-Feier werden | |
Verluste memoriert und der Horror in den nun neu zu besiedelten Städten, | |
den Ruinen, den Schlachthöfen des Krieges – was wie ein Alb auf dem | |
zukünftigen Leben liegen wird. | |
## Flucht im Ansatz erfahrbar | |
Man mag das dramaturgisch etwas pädagogisch finden, das lineare Erzählen | |
etwas schlicht. Aber dank des famosen Ensembles funktioniert der Text, | |
macht Flucht wenigstens ansatzweise erfahrbar. Ungerührt wird nur ein | |
ziemlich zynischer Lump die Aufführung verlassen. In Polen etwa kam es an | |
jedem Abend zu Standing Ovations – aufgeführt aber wurde unter dezentem | |
Polizeischutz. Gleich zum Tourauftakt wurde einer der Waggons besprüht, im | |
Internet wurde diskutiert. Einmal kamen 14 Zuschauer, einmal 114 – Pilger, | |
die einer gleichzeitig stattfindenden Papst-Tournee folgten. | |
Der hespiskarren der Company ist der Zug: 18 Menschen gehören dazu, jeder | |
hat in einem der vier Hotelwagen eine winzige Kabine. Viel mehr als ein | |
Metallgestellbett und ein Plastikdoppelsitz aus uralten Vorortzügen passt | |
nicht rein. Es gibt Gemeinschaftsduschen und -WCs, im 1.-Klasse-Wagon hat | |
Siemssen Chefbüro und Besprechungszimmer eingerichtet. Auf einem Anhänger | |
fahren Stromgenerator und Wassertanks mit. Fast autark sind die fahrenden | |
Künstler, eine kleine Welt für sich. Mietloks ziehen den ozeanblau bemalten | |
Zug von Station zu Station. Das dauert. Trotz der Enge, dem dauernden | |
Aufeinanderhocken, wirkt sich diese Bummelei aus: Der Zug ist eine fast | |
allüren- und absolut hektikfreie Zone. | |
Lüneburg: 9.–11. 8.; Hannover: 13.–15. 8.; Bremerhaven: 18.–22. 8.; Bad | |
Bederkesa: 23. + 24. 8.; Geestenseth: 25. + 26. 8. | |
6 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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