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# taz.de -- Sturmflut-Theater, arg anekdotisch: Kindergeburtstag auf dem Schwim…
> Die Theatergruppe Das letzte Kleinod beschäftigt sich mit der Sturmflut
> von 1962 – und hält sich leider mit Spiekerooger Anekdoten auf.
Bild: Aus dem Meer auf die Bühne: Auch Bauholz aus angeschwemmten Containern d…
Die Luft pfeift, das Wasser peitscht schäumend über die Neuharlingersieler
Hafenkante, Laternen wippen zur Orkanperformance im Takt. Aber die Fähre
schaukelt stoisch durch die Wassergebirge nach Spiekeroog. Selbst eine
normale Sturmflut, die sich bis zu zwei Metern über das mittlere Hochwasser
aufbauscht, würde hier nur mit einem müden Lächeln hingenommen. „Kein
Problem“, sagt der Kapitän.
Heute sind nur wenige Menschen an Bord, derzeit auch nur 20 Prozent der
3.500 Touristenbetten auf der Insel belegt. Denn mit den Stürmen startet
die Nebensaison. Der örtliche Supermarkt hat sein Angebot ausgedünnt,
Geschäfte und Restaurants sind fast alle geschlossen. Wer hungrig durch die
leergefegten Gassen tigert, bekommt nur in einem Café noch ein Tässchen
Kartoffelsuppe oder einen Labskaus-Klecks zum Aufwärmen.
## Verdichtete O-Töne
Aber zwischen Hafen und Café trotzt eine Flyerverteilerin den
Sturmangriffen und fragt Neuankömmlinge, ob nicht Interesse bestehe, mehr
zum Thema Sturmflut zu erfahren. Das Inselkulturangebot soll nicht auf
wenige Filmvorführungen, der Theaterspielplan nicht auf Gastspiele einer
plattdeutschen Laienspielerschar beschränkt bleiben. Performative Kunst ist
angekündigt: „Sturmflut – Dokumentartheater“ von Das letzte Kleinod. Daf…
interviewten die Theatermacher Zeitzeugen, von Schauspielern zu Monologen
verdichtet werden die O-Töne nun im „Doktorhaus“ als theatrale
Installationen dargeboten.
Die Künstlergruppe ist längst zur Heimatbühne Spiekeroogs avanciert, setzt
sich mit und für die Einheimischen mit Inselgeschichten auseinander. Am
Deich hat die Gruppe aus Geestenseth schon die französische Besatzung von
1811 nachinszeniert, mit einem Stück an die vor Grönland auf Walfang
gehenden Insulaner erinnert. Vom Untergang eines Auswandererschiffes vor
Spiekeroogs Küste des Jahres 1854 wurde am Strand erzählt. Und in der Alten
Kirche wurde die Herkunft der Marienfigur thematisiert – einem Mythos
zufolge strandete sie 1588 mit einem spanischen Kriegsschiff.
## Sturmflut-Stück im Herbststurm-Jahr
Nach den Herbststürmen „Sebastian“, „Xavier“, „Grischa“ und „Her…
nun jene Sturmflut auf die Bühne, die in der Nacht vom 16. auf den 17.
Februar 1962 in die Deutsche Bucht drückte, den Pegelstand um 4,65 Meter
erhöhte und in Hamburg ihren Höhepunkt erlebte – und Helmut Schmidt als
Krisenmanager Heldenstatus bescherte. Auf Spiekeroog rissen Deiche, der Ort
wurde überschwemmt, die Strandhalle weggerissen, Wasser- und
Stromversorgung brachen zusammen.
Erstmals auf die Insel engagiert wurden die Künstler 2009, als
Beluga-Reeder Nils Stolberg noch ein Star unter den Kulturförderern war und
die gelebte Postkartenidylle des Nordseeheilbads aufmischte. Allerdings: So
schnell er sich dort einkaufte, war er auch insolvent und wieder weg. Das
letzte Kleinod blieb, dank des Bürgermeisters Bernd Fiegenheim, heute
Vorsitzender der Kulturstiftung Spiekeroogs, die mit 22.500 Euro fast ihr
gesamtes Jahresbudget, hälftig Sponsorengelder und Tombolaerlöse, in die
„Sturmflut“-Produktion steckt. Damit im Touristentrubel das
Gemeinschaftsgefühl nicht verloren gehe, solle gerade jetzt, wo die knapp
800 Insulaner unter sich seien, zur Selbstverständigung eigene Historie
erlebbar gemacht werden, sagt Fiegenheim.
Und so hält sich Jens-Erwin Siemssens Inszenierung bei lokalen Anekdoten
auf, statt überregional anregende Einblicke in den menschlichen Umgang mit
der Naturkatastrophe zu geben. Ein Bundeswehrsoldat erinnert sich etwa, wie
er im Sturmfluteinsatz Sand in Säcke füllen und auf Deiche packen musste,
dafür bekam er von den Insulanern Butterbrote geschmiert. Und Spiekeroogs
Deichgraf nimmt fortgeschwemmte Ölbrenner zum Anlass, neue zu bestellen.
Wie die Inselgässchen zu reißenden Fluten werden, ist allerdings in einer
bildstarken Schilderung zu erleben. Noch eindrücklicher: wie Margarita
Wiesner körpersprachlich ein 13-jähriges Mädchen gibt, das im 55 Jahre
gereiften Erinnerungstonfall der Zeitzeugin über eine
Kindergeburtstagsfeier am Sturmfluttag berichtet. Musikalisch untermalt
werden alle Szenen vom Inselchor.
Ausgestattet sind sie mit wenigen, fantasievoll genutzten Requisiten –
neben rostigen Keller- und staubigen Dachbodenfunden vor allem Bauholz, das
an Spiekeroogs Küste aus einem zerquetscht angespülten Container quoll. Die
Theatermacher verarbeiteten es zu Bänken, schwankenden Planken,
Schifffahrtsmüll und einer blau illuminierten Strandgut-Installation.
„Minimaler Aufwand mit großer Wirkung“, loben die Insulaner, von denen die
Hälfte die Produktion bereits während der ersten Aufführungsserie besucht
hat, stellt Siemssen fest.
## Verharren im Historischen
Da die Texte im Historischen verharren, kommen Touristen wie Einheimische
während des obligatorischen Nachgesprächs bei heißem Sanddornsaft mit Rum
recht schnell aus ihrer Perspektive auf den Klimawandel zu sprechen. Ein
Schweizer erzählt von den schmelzenden Gletschern daheim, eine Insulanerin
von ihrer Begeisterung, bei Sturmfluten auf die Deiche zu gehen und sich
das Naturspektakel anzuschauen. Einige Häuser Spiekeroogs seien mit
Schwimmdächern ausgestattet, erfährt man: Hinaufgeklettert bei einer
Sturmflut, ein paar Bolzen gelöst, schon reite man mit einem Floß über die
Wellen.
Aber auf solch ein Abenteuer wollen alle verzichten. Also heißt es: „Was in
den Klimaschutz zu wenig investiert wird, müssen wir für den Deichschutz
zusätzlich ausgegeben.“ Wie drängend das Problem ist, konnte man auf
Spiekeroog im vergangenen Jahr wieder sehen: 400 Meter Strand gingen
verloren – eine Million Euro und 80.000 Tonnen aufgespülten Sands waren in
diesem Sommer nötig, um das verlorene Land zurückzugewinnen und weggefräste
Dünenhügel als Sturmflutschutz nachzumodellieren.
Und die Spiekerooger legen auch selbst Hand an: Um ein Bewusstsein für die
Bedrohungslage zu erzeugen, hat das Hermann-Lietz-Gymnasium im
Überschwemmungsgebiet eine „Deichbaugilde“ ins Leben gerufen. Schüler
harken angespülten Unrat fort, beheben Schäden am Deich, stechen Disteln
heraus und halten Entwässerungsgräben gängig. Denn eines ist klar: Der Wind
wird wieder zum Tanz der Salzfluten aufspielen und hungrig nagen wollen an
der Sandbank namens Spiekeroog.
„Sturmflut“-Termine auf dem Festland: Sa, 2.12., bis Di, 5.12.,
Amerikabahnhof Cuxhaven; Do + Fr, 7. + 8.12., Museumsbahnhof Bederkesa; Sa,
9.12., bis Mo, 11.12.: Bahnhof Geestenseth.
[1][www.das-letzte-kleinod.de]
2 Dec 2017
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[1] http://www.das-letzte-kleinod.de
## AUTOREN
Jens Fischer
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des Muna-Geländes im niedersächsischen Lübberstedt. Zur Nazizeit stand dort
eine Munitionsfabrik, in der auch Zwangsarbeiter beschäftigt wurden -
darunter 500 Jüdinnen aus dem Konzentrationslager Auschwitz.
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