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# taz.de -- Doku-Inszenierung: Szenen einer Kriegsfabrik
> Das fahrende Theaterprojekt "Das letzte Kleinod" inszeniert die
> Geschichte des Muna-Geländes im niedersächsischen Lübberstedt. Zur
> Nazizeit stand dort eine Munitionsfabrik, in der auch Zwangsarbeiter
> beschäftigt wurden - darunter 500 Jüdinnen aus dem Konzentrationslager
> Auschwitz.
Bild: "Muna Lübberstedt", Szene vor einem ehemaligen Munitionsbunker.
Es ist nicht bekannt, ob das Bundesforstamt beim Konzern Google vorsorglich
die Verpixelung des von ihm derzeit verwalteten Muna-Geländes im
niedersächsischen Lübberstedt beantragt hat. Bisher gibt es nämlich kaum
Kartenmaterial, auf dem dieses 1.200 Hektar große Waldgebiet, von acht
Kilometern Schienen durchzogen und durchsetzt mit unter- und oberirdischen
Gebäuden, zu identifizieren ist.
Die Muna Lübberstedt ist ein Ort, den es gibt und den es gleichzeitig nicht
gibt. Das Gelände, bis vor kurzem von der Bundeswehr als Munitionsdepot
genutzt, war bis 1939 als so genannter "Bremer Wald" samt Waldschänke
Erholungsgebiet, bis hier eine Munitionsfabrik mit über 60 Bunkeranlagen
entstand. Doch nun kann er betreten werden, wenn auch nicht auf eigene
Faust: Es ist Schauplatz eines Theaterstückes, Titel: "Muna Lübberstedt".
"Wir sind die ersten, die hier rein durften", sagt Regisseur Jens-Erwin
Siemssen. Er ist Leiter des Theaterprojektes "Das letzte Kleinod", das
bewusst über keine eigene Spielstätte verfügt. Lieber reist man mit einem
Theaterzug, vorzugsweise entlang der niedersächsischen Küste, um sich mit
der Geschichte von Orten auseinander zu setzen, an denen man hernach
auftritt.
Es sei nicht ganz einfach gewesen, die verschiedenen Behörden davon zu
überzeugen, für die Muna entsprechende Genehmigungen zu erteilen, sagt
Regisseur Siemssen. Doch nach vielen Anrufen und Briefen sei alles gut
gegangen. "Wir erhalten jetzt Unterstützung von allen Seiten, wir kommen in
alle Gebäude hinein, wir haben für alles einen Schlüssel", sagt Siemssen.
Nur die befestigten Wege dürften sie nicht verlassen. Wer weiß, was in den
Wäldern noch so herumliegt.
Siemssen stieß als Bahnfahrer auf die Muna. Ihm fielen die Gleisanlagen
neben dem normalen Lübberstedter Bahnhof auf, die hinter einem schweren Tor
ins Nichts zu führen schienen. Neugierig geworden fragte er nach, nahm
Kontakt auf mit dem Arbeitskreis Muna Lübberstedt e.V., der besonders die
Geschichte der dortigen Munitionsfabrik seit ihrer Gründung 1939
recherchiert und ihm entsprechend Zeitzeugen vermittelte: ein heute älterer
Mann, der damals als Kind, das Lager beobachtete; zwei Frauen, die als
zwangsverpflichtete Zivilarbeiterinnen in der Nähstube arbeiten mussten;
und eine heute in Israel lebende Jüdin, die Lübberstedt überlebte. Sie kam
1944 zusammen mit etwa 500 ungarischen Jüdinnen aus Auschwitz nach
Lübberstedt-Bilohe; der Ort, vier Kilometer von Lübberstedt entfernt, war
Außenlager von Neuengamme, wenn es auch kein Todeslager war.
Aus den Gesprächen mit den vier Befragten montierte Siemssen kurze
Textblöcke, und er entwickelte berückende, bedrückende Szenen, in denen er
die Geschichte der Fabrik mitten im Wald erzählt, in der neben Munition vor
allem Seeminen zusammen gebaut wurden, die man per Fallschirm über dem
Wasser abwarf. Dazu geht es während der Aufführung mal in eine kalte,
zugige Halle, mal nach draußen ins Freie, wo es nach altem Laub und nasser
Erde riecht.
"Wir machen Bildertheater", sagt Siemssen. "Das Wort steht bei uns nicht an
oberster Stelle." Der Text sei entsprechend nicht so entscheidend. 20
Seiten habe die erste Textfassung umfasst, er hat noch mal gekürzt auf
vielleicht zehn Seiten.
Das Konzept, so viel kann gesagt werden, geht auf. Schon nach wenigen
Minuten hat man als Besucher die Orientierung verloren, wenn die fünf
Schauspieler in ihren stilisierten Kostümen agieren, während sich die
Dunkelheit über die Szene senkt. Und wenn etwa der Lagerleiter eifrig wie
ein Musterschüler erklärt, wie der Sprengstoff in die Seeminen gefüllt
wurde, während gleichzeitig aus dem Bunkerinneren ein schönes Lied
herausströmt, dann wird die in seitenlangen Essays so oft beschriebene
Gleichzeitigkeit von Kultur und Unkultur so präzise in ein Bild gegossen,
dass es keiner ausufernden Schilderung mehr bedarf.
Nur das ewige Ein- und Aussteigen in den alten Triebwagen, mit denen die
Besucher durch die Muna von Spielort zu Spielort gefahren werden, nervt auf
die Dauer. Nicht allein, weil viel Zeit verloren geht, sondern weil immer
wieder die Spannung abfällt, die in den knappen, verdichteten Szenen so
klug aufgebaut wurde. Das ist eben der Preis, besucht man ein Theaterstück
von echten Bahnfans.
Und was ist, wenn die Theatermacher wieder abgezogen sind, per - natürlich
- Bahn unterwegs zu neuen Projekten und Spielorten? "Die Ideen, was man aus
der Muna machen könnte, reichen derzeit von einer Feuerwerksfabrik bis
dahin, einfach den Zaun zu öffnen", sagt Siemssen.
Ideen hat auch der Arbeitskreis Muna Lübberstedt e.V.: Er würde gerne mit
Informationstafeln darauf hinweisen, was in diesem idyllisch-abgeschiedenen
Waldareal geschah. Und er würde gerne das einstige Wachhaus am Eingang für
eine kleine Ausstellung nutzen. Es steht vorne, beim bisher geschlossenen
Tor, wo eben die Gleise ins Gelände führen, die für das Theaterstück wieder
einigermaßen instand gesetzt wurden.
In der Nazizeit war die Muna übrigens der Kriegsmarine unterstellt. Seine
Existenz kratzt damit an der bis heute in Marinekreisen gepflegten Mär, die
blauen Jungs und die schnieken Kapitäne hätten von den KZs und ihren
Außenlagern nicht einmal gewusst.
6 Sep 2010
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Dokumentartheater
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