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# taz.de -- Theaterstück über das Exil von Wilhelm II.: Des Kaisers kalte Fü…
> „Das letzte Kleinod“ begibt sich im Theater-Zug auf die Spuren Wilhelms
> II. Der flüchtete 1918 vor der Novemberrevolution.
Bild: Kein objektiver Geschichtsunterricht: Der Kaiser als Naivling in Schütze…
Bremen taz | Flucht, Migration und Asyl gehören seit Jahren zu den
Top-Themen deutscher Bühnen. Und Medien und Museen feiern aktuell den 100.
Geburtstag der deutschen Novemberrevolution. Beides vereinen die
niedersächsischen Bühnenkünstler von „Das letzte Kleinod“ mit einem
ungewöhnlichen Protagonisten zu einem dramatischen Gewebe.
Dafür erweitern sie ihr Eisenbahn-, Objekt- und Dokumentartheater nun zum
Ausstattungstheater, haben recherchiert, was aus einem Regenten wird, der
sein Land verliert, und dafür Requisiten seiner Zeit gesammelt. Nun touren
sie mit „Wilhelm*ina“ auf den Spuren des letzten deutschen Kaisers und
Königs von Preußen von Frankfurt/Oder bis nach Utrecht. Gelebt, gespielt,
gereist wird im Company-eigenen „Ozeanblauen Zug“.
1918. Als die meuternden Soldaten mit der Arbeiterbewegung koalieren,
deutschlandweit für Frieden, Demokratie, vollständige Koalitions-,
Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit kämpfen, reagiert am 9. November
der Reichskanzler Prinz Max von Baden und gibt ohne Rücksprache mit Kaiser
Wilhelm II. dessen Abdankung bekannt. Der war bereits am 29. Oktober vom
Neuen Palais in Potsdam aus ins Hauptquartier seiner Generäle nach Belgien
aufgebrochen. Und sah sich dort einer Zweifrontengefahr ausgesetzt – es
nahten die alliierten Truppen wie auch die deutschen Revoluzzer.
## Ein Monarch an der Grenze
„Der Kaiser war aber kein politisch Verfolgter wie viele heutige
Flüchtlinge“, sagt Regisseur und Autor Jens-Erwin Siemssen, „er hat einfach
kalte Füße gekriegt.“ Nämlich befürchtet, als Kriegsverbrecher angeklagt
oder gar ermordet zu werden – wie die russische Zarenfamilie ein paar
Monate zuvor. Also stand der Monarch mitsamt prunkvollem Hofzug am 10.
November an der Grenze der neutralen Niederlande und bat die Königin,
einreisen zu dürfen.
Flüchtlingszentren gab es damals noch nicht, aber Platzprobleme bei
Gastfamilien. 60 seines 70 Mann starken Gefolges musste der Ex-Kaiser
entlassen, dann wurde er als Asylbewerber anerkannt und kam erst mal beim
Grafen von Bentinck unter.
Anderthalb Jahre später kaufte Wilhelm ein Landhaus mit 14 Zimmern und
riesigem Park im Dörfchen Doorn bei Utrecht, wo er bis zu seinem Tod 1941
lebte, Holz hackte, Wetterdaten sammelte und sich mit Armenspeisungen als
Wohltäter beliebt machte.
„Im seinem Mausoleum dort liegen frische Kränze von Kaisertreuen“, erzählt
Siemssen, der mit Mitarbeitern des Museums „Huis Doorn“ sprach, mit
Historikern, einem Patenkind der Kaiserin und Nachfahren der Zeitzeugen des
Exils. Und dabei festgestellt hat, dass der Erste Weltkrieg das Sprechen
über den Regenten vermint hat.
Die daraus resultierende Aufführung ist ein Brecht’sches
Verfremdungskunststück: Das fünfköpfige Ensemble spielt historische Figuren
wie den Adjutanten des Kaisers oder die niederländische Königin Wilhelmina,
spricht aber ein Best-of der 16 Interview-Mitschnitte. Aus dem
facettenreichen und widersprüchlichen Meinungsspektrum bastelt die
Inszenierung keinen objektivierten Geschichtsunterricht, sondern stellt die
Aussagen wie Zitate aus. Hinterfragt nicht.
Nur zwei Figuren bekommen ihre Worte von nur einem O-Ton-Spender. Eine
Verwandte der kaiserlichen Familie hat so präzise wie böse über den Kaiser
geschimpft, dass ihre Gemeinheiten und Verachtungssottisen seiner zweiten,
in den Niederlanden geehelichten Frau Hermine Reuß in den Mund gelegt
werden.
„Die war ein falscher Fuffziger“, betont Siemssen. Sie wird als
stricksüchtige, strenge Nationalsozialistin beschrieben. Was Darstellerin
Gonny Gaakeer verdeutlicht, indem sie für einen Verhaltenskodex mit
Handkuss und Hofknicks plädiert, ihr gleichzeitig aber der Arm zum
Hitlergruß erigiert. Ein Museumsmitarbeiter, so Siemssen, habe hingegen so
kenntnisreich und begeistert den Kaiser gepriesen, dass all diese Sentenzen
nun vom Wilhelm-Darsteller Richard Gonlag gesprochen werden.
## Verfremdungskunststück
Während er von anderen als Versager tituliert, als arrogant, launisch,
reich an Marotten beschrieben, auch als kleingeistiges Großmaul mit Donald
Trump verglichen und als pathologischer Egozentriker abgestempelt wird,
betont Gonlag etwas anderes: Er spielt einen einsamen Naivling, der dreimal
täglich die Uniform wechselt und hofft, auf den Thron zurückkehren zu
können.
Da lohnt es sich, mal genau hinzuschauen. An ihm ist doch ein ironischen
Kommentar der Theatermacher zu erkennen: Gonlags Kostüm stammt vom
Schützenverband Bremerhaven-Wesermünde, dazu trägt er eine Armbinde:
„Schützenkönig 1966“.
In einer verlesenen Urkunde erklärt Wilhelm, nur dann offiziell von allen
Ämtern zurückzutreten, wenn er seine Reichtümer nachholen dürfe. Durfte er.
59 Waggons voller Gemälde, Schmuck, Waffen, Kleidung, Schnupftabakdosen,
Mobiliar rollten bis 1920 nach Doorn. Sein Haus ist vollgestopft mit
Krempel – wie eine Zeitkapsel.
In einem „Kleinod“-Waggon wird das thematisiert: Das Ensemble öffnet
Kisten, packt Notenblätter, Schriftstücke, Bidet, Teeservice aus – alles
per Ebay aus dem Nachlass einer kürzlich verstorben Spandauerin erworben.
## Geglückte Selbsterfahrungsmomente
Mit Klavier, Geweih, Fotos, Schreibtischutensilien sind Zugkabinen zu
Salons, der Werkstattwagen als Arbeitszimmer und die Kantine zum Speisesaal
hergerichtet. Was besonders gut gelingt mit Kronleuchtern, historischen
Strukturtapeten und Kerzenleuchtern, auf weißen Tischtüchern ist eingedeckt
mit Goldrand-Porzellan, Silberbesteck und Eichenlaub. Jeder Zuschauer
bekommt einen Klecks Kartoffelstampf serviert, der mit Grünkohl verfeinert
ist.
Gegessen werden darf aber nur, wenn Wilhelm schweigt. Der ist aber redselig
und so untersagen Bedienstete den Zuschauern ständig, die Speise zu kosten.
Es sind diese beiläufigen Selbsterfahrungsmomente, die besonders geglückt
sind. Ebenso die intimen Szenen in den anderen Waggons. Dort können die
Darsteller kammerspielzart das Ringen um Formulierungen pro und contra
Kaiser empathisch verdeutlichen.
Vor dem mit kaiserlichen Wappen verzierten Zug sind hingegen plakative
XXL-Cinemascope-Bilder mit wackligen musikalischen Darbietungen dem
Objekttheater gewidmet. Siemssen arbeitet sehr reduziert. Sein Hauptutensil
sind Metalllüftungen des Hofzuges. Mit ihnen wird Gewehrgeknatter erzeugt,
auch werden sie als Gasmasken und Mikrofon genutzt. Schauspieler sinken
zusammen oder posieren wehrhaft.
Damit ist der 1. Weltkrieg und der November 1918 in wenigen Minuten
abgehandelt. Das Requisit aber begleitet fortan die Handlung, kommt auch
als Lenkrad, Hutschachtel, Telefon, Suppenschüssel oder Reichsapfel zum
Einsatz. So punktuell es immer wieder auftaucht, so erzählt Siemssen auch
seine Geschichte: Das Ganze ist kein Stück – sondern ein faszinierender
Schlaglichterreigen als pointilistisches Stimmungsbild.
8 Jul 2018
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Flucht
Novemberrevolution 1918
Monarchie
Dokumentartheater
Oper
Theater
Hochzeit
Dokumentartheater
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Politisches Theater
Schengen-Abkommen
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