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# taz.de -- Stadt-Theater in Schwerin: Wirre Wanderungen
> Das freie Theaterprojekt Gonzo macht in Schwerin aus dem spannenden Thema
> Zuwanderung und Entvölkerung nur unausgegorenes Mitmach-Theater.
Bild: Ziellos durch die Zeitblasen: Wohin Projekt Gonzos „Umsiedeln“ möcht…
Stadtgeschichte hineingekuschelt in große historische Kontexte – daraus
lassen sich Wissenschaftswerke, Romane, Kostümfilme, mit Fundstücken
garnierte Ausstellungen kreieren. Aber die Rezeptionssituation ändert sich
nicht. Auf der einen Seite ist das Wissen, auf der anderen der wissen
Wollende. Dazwischen: nichts außer flirrendes Begehren des Konsumenten.
Ihn damit selbst zum Spielen zu bringen, mit der Geschichtsvermittlung
interagieren zu lassen, versucht das fünfköpfige Regiekollektiv Prinzip
Gonzo. Eingeladen hat es nach Schwerin und dort einen Ort besetzt, der mit
Historie getränkt, von Gerüchten umrankt und Projektionsmonument für Ängste
und Visionen ist: die seit 2008 leerstehende Alte Polizeiwache an der
Amtstraße, 1876 als Kaserne der großherzoglichen Landesgendarmerie erbaut.
Heute sind die Keller überflutet, Schaltkästen ausgeweidet, von den Wänden
bröckelt Putz, von den Decken hängen elektronische Applikationen. Bald,
heißt es, soll die denkmalgeschützte Ruine entkernt und Tagungshotel
werden. Sodass die Theatermacher nun die letzte Chance nutzen, den
labyrinthischen Komplex den Schwerinern noch einmal zugänglich zu machen.
Super Idee.
Noch eine solche haben sie: „Umsiedeln“ ist ihre aufwändige Performance
betitelt. Während gegen Flüchtlingszuwanderung polemisiert werde und
sicherlich auch hier und dort noch Flüchtlingsunterkünfte überfüllt seien,
sei der Nordosten Deutschlands einladend leer, erklärt Dramaturgin Julia
Korrek. Viel Platz auf dem Land, in den Städten – Räume, die verwahrlosen.
Kein anderes Bundesland ist so dünn besiedelt wie Mecklenburg-Vorpommern.
So offen für vieles. Und viele, die den Verlust ihrer Heimat erlebt haben.
Ein Jahr lang haben die Gonzos mit Korrek reale Geschichten von Flucht,
Neuanfang und Heimweh in Mecklenburg recherchiert und ihn als Ort des
Kommens und Gehens entdeckt. Beginnend auf hochherrschaftlicher Ebene, mit
dem Aufbruch in die Kolonien, aber auch auf bürgerlicher Ebene, mit der
Deportation der Juden im Nationalsozialismus, und auf bäuerlicher Ebene mit
dem Einzug der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs. Gefolgt von den
Republikflüchtlingen der 1960er-DDR-Jahre bis hin zu den
Ost-West-Wanderungen der Nach-Wende-Zeit. Für all diese Zeiten historischer
Brüche wurden Zeitblasen-Räume in ehemaligen Polizeibüros inszeniert, die
mit entsprechend kostümierten Darstellern 1913, 1934, 1947, 1963 und 1994
heraufbeschwören sollen.
Das Publikum ist aufgefordert, sich selbst ein Theaterabenteuer zu
gestalten. Eingecheckt wird im Erdgeschoss bei der Zeitarbeitsfirma
„Settle“. Zur Registrierung reicht ein Wattestäbchenabstrich aus der
Mundhöhle. Der Datenschleim werde an die Personalabteilung weitergereicht,
heißt es. In 16 Vierergruppen aufgeteilt bekommen die Besucher
Arbeitsaufträge, sollen wie in kriminalistischen Rollenspielen in der
Vergangenheit ermitteln.
Mein Detektivquartett soll den Besitzerwechsel eines Amuletts
nachverfolgen. Andere versuchen, den Ahnen-Darstellern Rezepte oder den
Aufenthaltsort einer Statue zu entlocken. In Raum 1913 sitzt ein
Schauspieler im Weltkriegssoldatenornat am Lagerfeuer vor Zelt. Neben ihm
drapiert: eine Installation „Degen in ausgestopftem Hirsch“. Direkt
angesprochen, gibt er kund, dass das irgendwie von afrikanischen Legenden
umraunte Objekt dem Herzog Johann Albrecht geschenkt wurde von Kaiser
Wilhelm II.
Mit weiteren Indizien aus anderen Räumen fabulieren wir zusammen, dass das
Amulett später von einem jüdischen Juwelier an eine Schweizer
Kunstsammlerin ging und von einem DDR-Vopo am antiimperialistischen
Schutzwall gefunden wurde. Was soll uns das sagen? Keine Ahnung. Kommt denn
Freude auf? Nicht so richtig. Da keine Route vorgegeben ist, stellt sich
jeder sein Bouquet an Erlebnissen zusammen. Das erzeugt ein Tohuwabohu, da
keiner was verpassen möchte. Aber nach Herzenslust in die Szenen eindringen
und mit den Situationen spielen, ist nicht möglich: Jede Interaktion wird
von Wärter-Darstellern nach zwei Minuten abgebrochen.
Auch gelingt es den Gonzos nicht, mit lückenloser Spielintensität eine
eigene Realität zu simulieren – wie es etwa das Kollektiv Signa bei ihren
Hausbesetzungen zelebriert. Und mit welchen Strategien welche Informationen
zu bekommen, wie die Requisiten dafür einzusetzen sind, bleibt auch
unübersichtlich.
Überforderte Aufseher-Statisten müssen ratlosen Gästen verwirrende
Regularien erklären, schicken sie dann auch mal irgendwo hin, wo sie gerade
nicht erwartet werden, sodass zum Zeittotschlagen Kindergeburtstags-Jokus
als gruppendynamische Teambildungsmaßnahme absolviert werden muss: Vier
Leute quetschen sich, einbeinig schwankend, auf ein miniaturisiertes
Bodenquadrat. So kommt man sich körperlich näher, als es an einem
Guckkastentheaterabend möglich gewesen wäre – ob man will oder nicht.
Aber die behauptete Auseinandersetzung mit Mecklenburg als Region der
Umsiedler findet nicht statt. Ebenso ärgerlich: Auch der einmalige Spielort
ist letztlich egal. Und die zu lösenden Rätsel-Geschichten sind komplett
wurscht. Es gibt sie nicht mal. Nur einige Figuren seien historisch belegt,
sagt Korrek, alles narrativ Verbindende frei erfunden und allabendlich
frisch improvisiert.
Sodass die Schnitzeljagd auf der Suche nach historischen Wahrheiten auch
willkürlich beendet werden kann. Mit Sirenengeheul werden die Besucher nach
anderthalb Stunden rigoros in die Kälte gescheucht, alle Arbeitszettel und
Notizen zum Theaterabend entwendet. Nichts ist aufgelöst oder
zusammengeführt worden. Verlierer dieser unausgegorenen Abendunterhaltung
sind alle, die vom Theater mehr erwarten als harmlosen Spielespaß.
Prinzip Gonzo: „Umsiedeln“. Nächste Aufführungen: Do, 23.3. und Fr, 24.3.,
19.30 Uhr, Alte Polizeiwache, Amtstraße Schwerin
19 Mar 2017
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Flucht
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