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# taz.de -- Problemviertel auf der Bühne: In Hannovers Herz der Finsternis
> Regisseurin Ulrike Günther hat in Hannovers Problemviertel am Canarisweg
> recherchiert. Die Resultate zeigt das Stück „Bis hierher lief’s noch ganz
> gut“
Bild: Keine ernsthaften Strategien gegen das Elend: Zwei Schauspieler paddeln d…
HANNOVER taz | Es gibt sie in fast jeder deutschen Großstadt: Wohnviertel
wie den Hannoveraner Canarisweg. Wer bis dort hinausfährt, findet
heruntergekommene Hochhäuser, komplett von Schnellstraßen eingeschlossen.
Die Zugänge führen über Brücken oder durch dunkle, stinkende
Unterführungen. Was den Architekten in den 1970er-Jahren als ein
zukunftsträchtiges Wohnkonzept erschien, ist heute eine Parallelwelt der
Ausgeschlossenen. Die Mieten sind niedrig, die Wohnungen leicht zu
bekommen. In Anlagen wie der am Canarisweg sammeln sich die Verlierer
unserer Wohlstandsgesellschaft. Und nur selten besuchen Menschen aus
anderen Kreisen diese Gegenden, die Kriminalität ist hoch, nicht jeder
fühlt sich dort sicher.
Die junge Regisseurin Ulrike Günther hat es trotzdem getan. In einer
mehrmonatigen Recherche-Phase ist sie ins „Herz der Finsternis“ gereist,
wie es ironisch in ihrem Stück heißt. Sie sprach mit Lehrern,
Sozialarbeitern, Polizisten- und Jugendlichen, die in diesem Viertel leben
müssen. „Sogar für die Müllabfuhr brauchst du heute einen
Realschulabschluss“, sagt einer von ihnen, „da bleibt dir doch gar nichts
mehr anderes übrig, als Scheiße zu bauen.“ Die Ergebnisse ihrer Reise hat
Günther in einen dokumentarischen Theaterabend verwandelt, der am Sonntag
am Schauspiel Hannover unter dem Titel „Bis hierher lief’s noch ganz gut“
zur Uraufführung kommt.
Keiner der Bewohner des Canarisweg wird an diesem Abend auf der Bühne
stehen. Denn im Gegensatz etwa zu Kollegen wie den Künstlern von Rimini
Protokoll hält die Regisseurin wenig davon, echte Menschen als Experten des
Alltags auf der Bühne auszustellen. Ihre Arbeit soll im Gegenteil die Ebene
einer TV-Dokumentation verlassen und eine Haltung einnehmen, die den
Zuschauer herausfordert. „Dafür braucht es Schauspieler“, betont Günther.
## Kein szenischer Nachbau
Das Ergebnis ist denn auch keineswegs ein szenischer Nachbau der
Recherche-Erlebnisse auf der Bühne, wie es zum Beispiel die
niedersächsische Werkgruppe2 in ihren Produktionen immer wieder versucht,
sondern eine mehrdimensionale Collage. In oft witzigen, lose
aneinandergereihten Szenen treten immer wieder andere Aspekte der Probleme
rund um den Canarisweg in den Vordergrund.
Die Zuschauer verfolgen das Geschehen von zwei gegenüberstehenden Tribünen
unter kühl-weißem Neonlicht. Wie auf einer jener verrotteten Sportanlagen
oder einem Spielplatz fühlt man sich da – und kann seinem Gegenüber direkt
ins Gesicht sehen. Zwischen beiden Tribünen steht eine nicht näher
definierte Begrenzung mit Kunstrasen, die durchaus als eines jener
verfehlten Beton-Freiluft-Möbel der 1970er-Jahre durchgehen könnte.
Da sehen wir sie dann auf weißen Campingstühlen sitzen, die
Ausgeschlossenen. In schlecht sitzenden Jogginghosen, inmitten von Müll.
Sie trinken Cola und rülpsen, die Proleten, im perfekt in Szene gesetztem
Vorstadt-Klischee. Ein Klischee, das Günther immer wieder brechen will.
„Denn es geht auch darum zu überprüfen, was von unseren Bildern eigentlich
stimmt“, betont die Regisseurin.
Schuldig an der Misere seien nicht die Menschen in den Randgebieten,
sondern der Staat, der auf der Bühne als eine Gruppe von drei Polizisten
auftritt. Die erzählen, wie sie damit beschäftigt sind, die Jugendlichen zu
kontrollieren, zu verwarnen, vorübergehend festzunehmen – und wieder
freizulassen.
## Vorstadtproleten-Klischees
Oft würden die Straftäter zum ersten Mal im Kindesalter aufgegriffen, da
hätten sie dann noch Respekt. Je älter sie seien, desto mehr setzten sie
auf Widerstand. „Die kennen das System und reizen es aus“, sagt ein
Polizist. Und natürlich sei die Polizeiarbeit vom Grundsatz her
„repressiv“. „Unsere Aufgabe ist es, Verbrechen zu bekämpfen“ – und …
eines begehe, den erwarteten eben Strafen.
Auf eine echte Ausbildung und ein legales Leben hätte in diesen Vierteln
ohnehin niemand Lust. „Die sagen mir einfach, 300 Euro
Ausbildungsvergütung, das verdiene ich hier am Tag“, erklärt einer der
Polizisten, „mit Dealen.“ Logisch, dass sich unter solchen Voraussetzungen
auch bei der Polizei bestimmte Verhaltensmuster einschleichen. „Wer
ausländisch aussieht, wird eben öfter kontrolliert, das sind einfach so
Erfahrungswerte“, heißt es dann. Das sei ein offenes Geheimnis. Polizisten
mit Migrationshintergrund berichteten selbst von solchen Erfahrungen.
Ernst gemeinte Strategien, das Elend zu bekämpfen, hat Günther während
ihrer Recherche nicht entdeckt. Im Gegenteil: „Wie viel Geld ein Staat für
seine Bürger ausgibt, sagt viel darüber aus, wie wichtig sie ihm sind“,
glaubt die Regisseurin.
## Alles abreißen!
Im Fall des Canariswegs sind die Bewohner nach dieser Rechnung nicht
sonderlich wichtig für die Stadt Hannover. Auf ihrer Reise ins „Herz der
Finsternis“ paddeln zwei Schauspieler in einer Tonne der Hannoveraner
Müllbeseitigung in die Problemzone. Hier soll ein durchgeknallter
Dschungelkämpfer mit den Einwohnern zu einer Kooperation gefunden haben.
Der Mann entpuppt sich als halbnackter Sozialarbeiter mit einer Sense, der
mit 4.000 Euro Jahresetat im Auftrag der Stadt für Ordnung sorgen soll.
Das klappt natürlich nicht. Seine Alternative, um das Probleme zu lösen,
fällt brachial aus. „Abreißen, alles“, fordert der Dschungelheld, „die
Hochhäuser, die Parks, die stinkenden Fahrstühle und die Unterführungen.“
Und vor allem auch den ganzen Staat, der derartige Zustände möglich macht.
13 Nov 2016
## AUTOREN
Alexander Kohlmann
## TAGS
Sozialarbeit
Brennpunkt
Dokumentation
Schauspiel
Theater
Politisches Theater
Reformpädagogik
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