# taz.de -- Willkommenskultur auf dem Land: Fremdeln im Gemeinschaftshaus | |
> Zwei Jahre lang begleitete die Göttinger Werkgruppe2 ein | |
> deutsch-syrisches Liebespaar in der Provinz und bastelte daraus | |
> Dokutheater. Nun zieht „Im Dorf“ durch die Dörfer. | |
Bild: Am Ende scheitert ihre Liebe an den Umständen: Asan (Ahmad Kiki) und Bea… | |
GÖTTINGEN taz | Raus aus Göttingen, hinein ins sanft auf- und abwellende | |
Eichsfeld, dorthin, wo einst Sackgassendörfer an der Westseite der | |
DDR-Grenze und ihre Ost-Pendants in der 5-Kilometer-Sperrzone vor sich hin | |
darbten. Heute schlängelt sich der ehemalige Todes- als schmucker | |
Grünstreifen durch den ländlichen Raum. Genau dort versucht das freie | |
Theater Werkgruppe2 prototypisch die Gefühlslage der Nation zu | |
dokumentieren – inklusive Denkbewegungen und -verweigerungen. | |
Als Mikrokosmos haben die Göttinger ein Thüringer Dorf auserkoren, dessen | |
Namen die Theatermacher*innen allerdings nicht verraten – das hatten sie | |
allen Bewohner*innen in dieser Oase für xenophobe Menschen versprochen: | |
keine Moschee weit und breit, nirgendwo eine Unterkunft für Migrant*innen. | |
Willkommenskultur scheint dort überflüssig, denn Fremde sind bisher nur | |
einmal zugezogen – aus dem Nachbardorf. Und jetzt das: Die Tochter des | |
Gastwirts kommt mit einem syrischen Kurden heim und ist schwanger. Während | |
ihres Jobs in einer Nordhausener Unterkunft für Geflüchtete verliebten sich | |
die beiden. | |
In den vergangenen zwei Jahre interviewten Regisseurin Julia Roesler und | |
Dramaturgin Silke Merzhäuser das Paar immer wieder, um etwas vom Wandel | |
ihrer Beziehung unter der besonderen sozialen Kontrolle in der Provinz zu | |
erfahren. Inklusive der Einflüsterungen einiger Dorfbewohner, die ebenfalls | |
interviewt wurden. 600 Seiten O-Ton-Abschriften sind so zusammengekommen, | |
konzentriert auf 30 Textseiten kommen sie nun zu Gehör – der Authentizität | |
zuliebe mit allen Halbsätzen, Versprechern, Ääähhs und kraus im Nichts | |
verknoteten Formulierungen. | |
Meist in direkter Publikumsansprache sprechen Profischauspieler*innen, | |
obwohl mit der Übersetzung in szenisches Spiel noch viel mehr zu erzählen | |
wäre. Aber es gibt Musik: Jazzsängerin Esra Dalfidan interpretiert | |
DDR-Schlager und kurdische Lieder, Uli Genenger perkussioniert einen | |
sanften Soundtrack unter die Szenen von „Im Dorf“. Die Produktion tourt | |
durch Gasthäuser und Gemeindesäle der ländlichen Region, um deren Bedeutung | |
als Orte der Selbstverständigung zu stärken. | |
## Ein- und Unterordnen | |
Heute in Gellierhausen. Etwa 400 Einwohner. Nichts außer der Bushaltestelle | |
„Ortsmitte“ weist auf eine solche hin. Gülleduft liegt in der Luft, | |
durchzogen von Aromen faulender Äpfel. Idyllisch gemeinte Vorgärten im | |
Landhausstil und kantige Neubaumoderne der Zugezogenen wechseln sich ab mit | |
Fachwerknostalgie und dahinbröckelnden Nebenerwerbshöfen. Auf dem Weg zum | |
Friedhof ist das ehemalige Raiffeisengebäude zum Dorfgemeinschaftshaus | |
umgebaut worden. Es verströmt schlichten Mehrzweckhallencharme, besitzt | |
eine breite Theke, eine kleine Bühne und Seniorenheimmobiliar. | |
Familienfeste werden dort gefeiert, Schützen treffen sich zum | |
Katerfrühstück, Spiele- und Bastelnachmittage sowie Tanzabende finden | |
statt. Und heute also Theater. 40 Besucher kommen, Alterschnitt: über 60. | |
„Hallo, ich bin Beate.“ Beiläufig findet Elisabeth-Marie Leistikow zu ihrer | |
Rolle und liebkost den Zwei-Tage-Bart Asans, gespielt von dem 2015 aus | |
Damaskus geflüchteten Mimen Ahmad Kiki. Bald kleben Lippen gierig an | |
Lippen, „Kein Wunder“ glitzert es silbern dazu vom Bühnenaufsteller. Denn | |
das bedingungslose Aufeinanderzu folgt ja keiner Magie, sondern | |
nachvollziehbaren Kriterien. Mit Asan könne sie sich so gut unterhalten, | |
ist Beates Argument, später fügt sie noch seine Ehrlichkeit hinzu. Mehr ist | |
aber leider nicht zu erfahren, warum sie diese Herausforderung wählt. | |
Asan ist zwar 20 Jahre alt, gab sich für die Schutzprivilegien geflüchteter | |
Minderjähriger aber als solcher aus, was kein Amt je überprüft hat. So gilt | |
er offiziell als 17-Jähriger und Beate muss sich wegen sexuellen | |
Missbrauchs Schutzbefohlener verantworten. Ihr Arbeitsvertrag wird nicht | |
verlängert, das Paar flüchtet zu Beates Eltern ins Dorfgasthaus, hilft dort | |
mit. Aber nach anfänglicher Neugier und höflicher Gastfreundschaft gehen | |
Nachbarn auf Konfrontationskurs, schneiden das Paar, kritisieren mangelnde | |
Integration, womit mal Ein-, mal Unterordnen gemeint ist. | |
„Dieses Dorf ist eigentlich nur scheiße“, wird Asan später sagen. | |
Textauswahl und Inszenierung schlagen sich auf seine Seite und versuchen, | |
das zu beweisen. Die Interviewerinnen scheinen vor Ort stets so lange | |
nachgefragt zu haben, bis es aus den Gesprächspartnern heraussprudelt, was | |
sie angesichts des Neubürgers bewegt. Der Bürgermeister jubelt, wie das | |
Dorf nach der Wende wieder flott gemacht wurde, jetzt gebe es 55 Prozent | |
CDU-Wähler, trautes Vereinsleben, keine Arbeitslosen – da würden | |
Flüchtlinge nur stören. | |
## Ein Korn fürs Publikum | |
Der katholische Pastor fühlt sich von Asan in seiner Panik vor dem Islam | |
bestärkt, obwohl der überhaupt kein praktizierender Moslem ist. Keckes | |
Rassist*innen- und Neonazi-Geschwätz zeichneten die Autorinnen auf, als sie | |
einen Abend lang mit den letzten Stammgästen des Gasthofs gesoffen haben. | |
„Eine üble Stimmung zwischen Anmache und politischer Provokation“, sagt | |
Roesler. Die beiden Darsteller*innen spielen nun all diese Figuren mit | |
grotesken Kostümen – fette Wampe, aufgemalte Modeschäbigkeit – und Masken | |
dermaßen karikierend, als wollten sie sich für die mangelnde Empathie | |
gegenüber den Protagonist*innen rächen. | |
Nur Beates Vater wird differenzierter dargestellt und berichtet, einst | |
„Ausländer“ grundsätzlich, dann aber nur die abgelehnt zu haben, die sich | |
nicht benehmen können. Mit Asan sei er auf langen Harzwanderungen sogar | |
warm geworden. Kiki spielt die Rolle mit einnehmender Freundlichkeit, | |
gewinnt das Publikum, indem er eine Runde Korn ausgibt. Neigt aber zu | |
Unbeherrschtheiten – als Beate die Schwangerschaft verkündet. | |
Für die folgenden Probleme sind Kompromisse gefragt. Das Kind wird getauft, | |
darf aber kein Schwein essen. Final öffnet sich Asan und berichtet vom | |
Krieg, vom Verlust der Heimat, Traumatisierungen in der kurdischen Armee | |
und die Not, mit all seinem westlichen Tun im Widerspruch zu den familiären | |
Traditionen der Eltern zu stehen. Man erfährt von der wachsenden Sehnsucht, | |
die Familie nachzuholen – und der schwindenden Kraft, mit dem fremdelnden | |
bis feindlichen Umfeld umgehen zu können. | |
Auch die Paarbindungsenergien scheinen schließlich aufgebraucht. Beate malt | |
sich das Leben als Alleinerziehende aus und starrt ins Leere. Es sieht nach | |
Trennung aus. So wird aus der Integrationsdoku das Drama einer die | |
Alltagsrealität übertrumpfenden, ihren Gesetzen dann aber doch erliegenden | |
Liebe. Das Private scheitert als Politikum, bei diesem künstlerisch | |
überzeugenden Abstecher in die Provinz. | |
5 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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