# taz.de -- Videoserie über das Weinen auf der Bühne: Tränen, die lügen | |
> Das Theaterkollektiv Werkgruppe2 hat 25 Schauspieler:innen übers Weinen | |
> ausgefragt – und sie auch gleich um ein paar Tränen gebeten. | |
Bild: Schauspielhandwerk oder aus dem Innersten? Denise M’Baye weint | |
„Männer weinen heimlich“, sang Herbert Grönemeyer – und der Volksmund | |
ergänzt in bösartiger Idiotie: „... und Frauen mit Absicht“. Bevor man si… | |
nun aber völlig zu Recht analytisch, kritisch und mit Haltung auf diese | |
Klischees stürzt, ließe sich kurz noch festhalten, dass durchaus etwas dran | |
ist an den schnöden Zeilen. Nur eben nicht die Wahrheit. | |
Die Tränenfrage ist durchzogen von widersprüchlichen Angelegenheiten: von | |
Intimität, Geschlecht und Gender zum Beispiel, aber auch von Wahrheit, | |
Manipulation und Lüge. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass die Momente, in | |
denen jemandem Wasser aus den Augen läuft, in der bildenden Kunst wie im | |
Schauspiel zuverlässig Höhepunkte stiften. | |
[1][„Weinen“ heißt nun auch das aktuelle Projekt] der auf Dokumentarisches | |
spezialisierten freien Theatergruppe [2][Werkgruppe2] aus Göttingen. Die | |
Videoserie ist ihre erste Produktion seit Beginn der Coronapandemie, sehr | |
zeitgemäß per Internet und Video, schöpft aber aus dem Kapital einer | |
Gruppe, die seit Jahren in verschiedenen Zusammenhängen und Konstellation | |
durch die (vor allem) norddeutschen Theaterstädte zieht: Kontakte nämlich. | |
Ganze 25 Schauspieler:innen haben sie gefunden, die bereit waren, mit der | |
Kamera über ihr Weinen auf der Bühne zu sprechen. | |
Das Setting ist immer gleich: Die Kamera, der Hintergrund, das Stativ und | |
so weiter kamen per Paket zu den Menschen, die Interviews wurden übers | |
Internet geführt. Dieses erst mal unspektakulär klingende technische | |
Verfahren hat tatsächlich eine sonderbar aufregende Wirkung: Im Resultat | |
sind nun nämlich 25 glasklare Aufnahmen in Studioqualität zu sehen, in | |
denen zugleich aber der intime Rahmen unsichtbarer Privatwohnungen | |
nachhallt. Und das ist besonders am Ende der Kurzfilme wichtig, an dem | |
nämlich die Bitte im Raum steht, jetzt noch eben selbst in die Kamera zu | |
weinen. | |
## Mehr als nur Handwerk | |
Die Aufforderung ist frecher, als zunächst vermuten könnte, wer | |
Theaterweinen erstens für bloßes Tränenrausdrücken hält und zweitens | |
glaubt, das gehöre für Schauspieler:innen eben so zum Tagesgeschäft. | |
Gerade rücken kann dieses Bild zum Beispiel Fanny Staffa. Sie ist | |
Ensemblemitglied am Staatsschauspiel Dresden, aber auch bekannt von | |
bundesweiten Bühnenauftritten und im Fernsehen etwa vom Rostocker | |
„Polizeiruf 110“. In ihrem „Weinen“-Interview erzählt sie zwar kurz au… | |
vom Handwerklichen, vor allem über ein notwendiges Fingerspitzengefühl, das | |
längst nicht alle Regisseur:innen und Kolleg:innen an den Tag legten. | |
„An der und der Stelle, da wo du geweint hast – da weinste jetzt ja dann | |
immer“, sei ein Abrufen, das überhaupt nicht ginge, sagt Staffa: „Das zieht | |
jedem Schauspieler den Stecker.“ Und das wohl gar nicht mal nur, weil es | |
plump und respektlos klingt, sondern auch, weil es das Weinen so groß und | |
unbestimmt macht. Stattdessen wäre, so Staffa, klar und analystisch zu | |
beschreiben, was auf der Bühne genau passiert. Weil das aber nicht jede:r | |
könne, gäbe es immer wieder unangenehme Momente des Schweigens angesichts | |
einer Intimität, die eben doch mehr als einfach nicht nur Handwerk ist. | |
Während man sich so durch die verschiedenen Videos klickt, wächst zunehmend | |
der Eindruck, dass auch unter Profis alles andere als ausgemacht ist, wie | |
es um die Tränen steht. Das klingt nach Theater-Insidern – und ein | |
bisschen ist das bei der „Weinen“-Serie auch so. Aber eben nicht nur. | |
Was nämlich über diesen ungewöhnlichen (und übrigens auch für sich schon | |
sehr interessanten) Blick hinter die Kulissen hinausgeht, ist nämlich, dass | |
echtes Weinen mitunter genau die gleichen Probleme mit sich bringt. Und | |
auch jenseits der Bühne performt wird – oder wenigstens so verstanden wird, | |
womit wir wieder bei Grönemeyer und der Absichtlichkeit wären. | |
Die Wut im Video von Ariane Andereggen, die seit Jahren als Schauspielerin, | |
Videokünstlerin und Regisseurin tätig ist, hat zum Beispiel längst nicht | |
nur mit Kunst zu tun: In jüngeren Jahren müssten Frauenfiguren immer | |
traurig sein, sagt sie, später käme dann ein Problem mit der Frustration | |
dazu: „Aggression wird bei älteren Frauen sofort der Frustration | |
zugeschrieben, als ob man im Alter nicht mehr aggressiv sein könnte. Aber | |
es sieht halt nicht mehr so cool aus.“ | |
## Tränen sind eine Klassenfrage | |
Wer worüber wie weint – und wer es besser lässt – ist eines der großen | |
übergreifenden Themen der Serie, die sich hier aus verschiedenen | |
Perspektiven um Fragen von Race, Class und Gender sortieren. Auch scheint | |
es in Sachen bewussten Umgangs mit Intimitätsfragen große Unterschiede | |
zwischen Akteur:innen der freien Szene und ihren Kolleg:innen aus den | |
Stadt- und Staatstheatern zu geben. | |
Das allerdings sind Eindrücke, keine klaren Fronten – und es wäre auch | |
beknackt, hier nun nachträglich durchzudeklinieren, was die Serie bewusst | |
zwischen den Zeilen belässt. Ihre große Stärke ist ja gerade, dass die | |
mitunter stark auseinandergehenden Positionen eben nicht gegeneinander | |
ausgespielt werden, sondern mit vollem Recht nebeneinander stehen. | |
Mit am schönsten auf den Punkt bringt diese individuelle Haltung Denise | |
M’Baye, Schauspielerin und Sängerin aus Hannover. Sie kennt das mit dem | |
Weinen vom Fernsehen, wo man rasch einen Püster ins Gesicht bekäme, „und | |
dann laufen da Tränen“ – aber eben auch vom Theater, wo es etwas wirklich | |
Tiefes treffen könne und man plötzlich an seinem „innersten Kern“ arbeite. | |
Das aber ginge nur streng dosiert „und wo es das auch wert ist“. | |
Bemerkenswert ist auch der Gedanke von Theatermusiker Lars Wittershagen, | |
der überhaupt daran zweifelt, dass nun ausgerechnet Weinen der rechte | |
Ausdruck für Trauer auf der Bühne sein soll. Warum nicht Choreografie oder | |
andere eher ästhetische Formen? Das trifft sich auch mit einer Erkenntnis | |
der Werkgruppe2, die Dramaturgin Silke Merzhäuser der taz verrät: dass die | |
Gruppe nach einem Interview-Gespräch über die Regieanweisung „weint“ (sta… | |
zum Beispiel offener: „ist traurig“) auch ein eigenes Drehbuch für ein | |
kommendes Projekte schnell noch mal umgeschrieben habe. | |
23 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://weinen.net/ | |
[2] https://www.werkgruppe2.de | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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