Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Weinen in der Öffentlichkeit: Sorry, ich bin kurz im Breakdown-Mod…
> Klar kann man anderen mit den eigenen Sorgen auf die Nerven gehen. Aber
> macht der Anspruch, alles allein zu regeln, die Sache nicht noch
> schlimmer?
Bild: War manchen letzten Sommer gleich eine Nachricht Wert: Fußball-Bundestra…
Vor zwei Wochen fahre ich in Leipzig vom Connewitzer Kreuz aus die Karli
hoch und höre eine Person in der Tram laut weinen. Zuerst ziehe ich meine
Kopfhörer ab, und dann spüre ich die zwei Wölfe in meiner Brust. Um mich
herum versuchen die meisten Menschen so konzentriert wie es nur geht, auf
ihr Handy zu schauen, manche werfen kurz einen Blick rüber. Etwa nach fünf
Minuten halte ich das nicht mehr aus.
Mich kostet’s echt viel Überwindung, aber kurz bevor ich aussteige, krieg
ich’s dann doch gebacken, der Person einen Zettel zuzudrücken: „Ich hoffe,
dir geht es bald besser. Wir kennen uns zwar nicht, aber pass auf dich
auf:(“ Die Person steigt mit mir zusammen aus. Wir reden.
Plottwist: Ich bin die Person, die in der Tram laut heult. Also nicht genau
diese Person, aber ich mache andauernd genau das. Ich bin ein Crybaby: Nach
der Bundestagswahl sitze ich zum Beispiel mit losen Bekannten in einer Bar
im Leipziger Osten – es kommt zu einer heavy Diskussion über
Nichtwählerschaft und am Ende passiert’s: Der Damm bricht. Jona hat einen
Heuli.
Ist das jetzt unangenehm? Die Anspannung, die die ganze Zeit unter unserem
Gespräch lag, war zwar aufgelöst, aber dafür sind da jetzt die
überforderten Gesichter meiner Freund*innen.
## Eine andauernde Grenzverletzung
Negative [1][Gefühle in der Öffentlichkeit] auszuhalten, uiuiui. Immer,
wenn ich sehe, dass jemand heult, drängen sich auch bei mir ambivalente
Gefühle auf: Ich will nicht aufdringlich sein, Ignoranz fühlt sich aber
auch kacke an. Außerdem glaube ich, dass wir uns oft ein mal mehr
zurücknehmen, weil viele von uns von klein auf lernen, dass uns das Leid
anderer Menschen nichts angeht.
Diese liberale Lüge, dass wir alle für uns selbst verantwortlich und selbst
schuld sind und so weiter. Und selbst in meinem engen Freundeskreis merke
ich die Zurücknahme auch: Wir sind oft überfordert, wenn es Leuten schlecht
geht.
Meine Freund*innen wissen, dass ich der größte Hater beim Satz „Ich habe
keine Kapazitäten“ bin – vor allem in dem Zusammenhang damit, wenn es
meinen Freund*innen schlecht geht. Ich hatte schon oft genug Situationen,
in denen es mir sehr schlecht ging und es mir schwergefallen ist, nach
Hilfe zu fragen, weil man sich ohnehin schon als Belastung für andere
versteht.
Füreinander da zu sein kann anstrengend sein – sich scheiße zu fühlen ist
anstrengender. Wenn aber eine Freundin vor meiner Haustür steht, und ich
sage: „Keine Kapas“, dann bin ich nicht nur eine schlechte Freundin,
sondern auch Symptom dieser Vereinzelungsgesellschaft.
## Tränen für alle
Es gibt da eine dünne Linie zwischen Grenzen setzen und Leute allein zu
lassen. Community bildet sich genau daraus. Zu wissen, dass wir einfach
voreinander weinen können, kann viel mehr Last abnehmen. [2][In einer Zeit
der Einsamkeitsepidemie] hilft es umso mehr, Verantwortung füreinander zu
tragen. Andere tun das dann genauso für uns.
Was ich begehre ist, dass keine Person mehr denkt, dass sie Dinge mit sich
selbst ausmachen müsste. Heulen gehört in die Öffentlichkeit – und in
gemeinsame Quality-Time. Wir heulen vor dem Späti, im Plenum, auf dem
Balkon in der WG. Im Flixbus. Heulen im Gym (da ganz besonders!). Heulen.
Heulen. Heulen.
Ich kann diese Vereinzelung nicht mehr. Ich werde immer und immer wieder in
Bars und an der Lidl-Kasse heulen. Lasst uns gemeinsam weinen. Wir alle
sind doch schon einsam genug.
28 Apr 2025
## LINKS
[1] /Videoserie-ueber-das-Weinen-auf-der-Buehne/!5727710
[2] /Studie-zu-Einsamkeit/!6010543
## AUTOREN
Jona Rausch
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Begehren de luxe
Gefühle
Solidarität
Psychische Belastungen
Social-Auswahl
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schauspiel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Über den Stress, sich zu entspannen: Im Kopf tausende offene Tabs
Runter vom Dauerstress. Aber wie? Also ab in die Sauna. Und in den Auwald.
Doch Entspannung auf Teufel komm raus ist ganz schön anstrengend.
Linke Stylekunde: Klassenfrage in drei Streifen
Unsere Kolumnistin grübelt über linke Begeisterung für Adidas. Und darüber,
wie sich ihr Sozialleben mit der ersten eigenen Markenhose verändert hat.
Besinnliches zum Jahreswechsel: Bis einer heult
Die Weltlage könnte besser sein, die allgemeine Stimmung auch. Unser
Kolumnist wünscht trotzdem „Frohes Fest“, wenn auch mit geballten Fäusten.
Videoserie über das Weinen auf der Bühne: Tränen, die lügen
Das Theaterkollektiv Werkgruppe2 hat 25 Schauspieler:innen übers Weinen
ausgefragt – und sie auch gleich um ein paar Tränen gebeten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.