# taz.de -- Intendanz der Münchner Kammerspiele: Livecams und Tigerauge | |
> Nachhilfe für Performance-Analphabeten und irritierende Empathie: | |
> Matthias Lilienthals Marathon-Auftakt beginnt eher mau. | |
Bild: „Der Kaufmann von Venedig“ an den Münchner Kammerspielen. | |
Vieles ließ der Amtsantritt Matthias Lilienthals an den Münchner | |
Kammerspielen erwarten, aber nicht allzu viel grundlegend Neues. | |
Schließlich hat man hier schon unter Frank Baumbauer den Stadtraum erobert | |
und die Crème de la Crème der Postdramatik kennengelernt, noch bevor Johan | |
Simons den zeitgenössischen Tanz und ein europäisches Ensemble auf die | |
Sprechtheaterbühne ließ. Und doch hat man sich den Einstand des neuen | |
Mannes aus Berlin spektakulärer vorgestellt. | |
Gut, Lilienthal hat außer der Umbenennung der Spielstätten im | |
Hebbel-am-Ufer(HAU)-Style einige Menschen aus der freien Szene mitgebracht | |
und seinen für München weitgehend neuen Hausregisseur Nicolas Stemann, der | |
am Freitag den Premierenmarathon eröffnete. Stemanns Version von | |
Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ lockte ein Publikum ins vormalige | |
Schauspielhaus (jetzt: „Kammer 1“), in dem die Bunte-Chefin Patricia Riekel | |
fast ebenso viele Bekannte ausgemacht haben dürfte wie Annemie Vanackere, | |
Lilienthals Nachfolgerin am HAU. | |
Nun saß man also heterogen beieinander und war gespannt, wie bunt es auf | |
der Bühne von Katrin Nottrodt werden würde, wo auf fünf Monitoren der Titel | |
des Abends zu lesen war, damit der keinem abhandenkomme zwischen nüchternen | |
Büroschreibtischen, Videos von Drag-Partys und sechs Schauspielern, die | |
ohne Rollenzuordnung die Texte von rund zwanzig Figuren vom Bildschirm | |
ablesen. | |
Mal macht das Sinn, weil so die Haltungen deutlicher werden, die die | |
Figuren teilen. Mal klingt es wenigstens dramatisch, weil Passagen | |
musikalisch verstärkt oder verzerrt werden. Oft aber wirkt es so, als habe | |
der Jelinek-affine Regisseur Stemann sein an assoziativen Textflächen | |
erprobtes Verfahren aus reiner Gewohnheit auf das Drama übertragen, in dem | |
der Jude Shylock das Messer wetzt, um sich vom (christlichen) Kaufmann | |
Antonio jenes Pfund Fleisch zu holen, das Antonio ihm als Pfand für die | |
3.000 Dukaten versprach, die sein Freund Bassanio für die Werbung um die | |
schöne (und reiche) Portia brauchte. | |
## Antisemitisch oder von Antisemitismus handelnd? | |
Die Frage, ob das Stück antisemitisch ist oder nur von Antisemitismus | |
handelt, ist alt – und Stemanns Haltung dazu schwer zu ergründen. Shylock | |
wird mal durch die verzerrte Bildschirmfratze von Walter Hess | |
repräsentiert, mal durch einen Vampirzähne tragenden Niels Bormann: „Ich | |
spiele keinen Juden. Ich spiele einen Juden, der einen Vampir spielt.“ Und | |
am Ende, als ihn die Mehrheitsgesellschaft seines Geldes und seiner | |
Identität beraubt, verliert Shylock die Stimme. | |
Das ist einer der am meisten sagenden Momente eines Abends, der über weite | |
Strecken so wirkt, als habe man mit viel Fleiß eine Schaustelle für das | |
angelegt, was man im heutigen Theater eben so macht: Livecams ermöglichen | |
indirekte Kommunikation über Bildschirme; die serbische Sängerin Jelena | |
Kuljić setzt sich ans Schlagzeug, spielt „Eye of the Tiger“. | |
Alt-Ensemblemitglied Thomas Schmauser und Neuzugang Julia Riedler (mit | |
einer wunderbaren Rauheit unter der Rauschgoldengel-Schale) turteln als | |
Bassanio und Portia zwischendurch fast privat. Der junge Hassan Akkouch | |
erweist sich als sehr akrobatischer Tänzer und – mit Perücke – als tolles | |
Conchita-Wurst-Double in Blond. Vom Happy End distanziert man sich mit | |
betontem Klamauk. Und im Verlauf dieser Nachhilfestunde für | |
Performance-Analphabeten blitzt hie und da Stemanns gesellschaftskritischer | |
Ansatz durch. | |
So macht etwa der Anfang von Shylocks Monolog „Ich bin Jude . . . Wenn ihr | |
uns stecht, bluten wir nicht? . . .“ einmal die Runde durchs | |
vielversprechende heterogene Ensemble. Von Akkouch (“Ich bin Moslem!“) über | |
Bormann (“Ich bin schwul!“) bis zu Kuljić (“Ich bin Roma!“) und Riedler | |
(“Ich bin eine Frau!“) reklamiert ihn jeder für sich, bis der christliche | |
Heteromann Schmauser sich stöhnend windet und den folgenden Satz alle | |
Minderheitenvertreter im Chor sprechen: „Die Bosheit, die ihr mich lehrt, | |
die will ich ausüben.“ | |
Der könnte zugleich auch als Leitmotiv über der zweiten Premiere des | |
Wochenendes stehen: „Ode to Joy“ versucht, die Motive und medialen | |
Erscheinungsformen der palästinensischen Revolution anhand des | |
Olympia-Attentats von 1972 zu erklären. Man kennt den libanesischen | |
Künstler Rabih Mroué als behutsamen Befrager von Bildern des Krieges in | |
seiner Heimat. | |
## Entweder naiv oder über zu viele Ecken herum klug | |
Die Performance ist problematisch – und zwar nicht deshalb, weil es ein | |
kleiner Abend ist, den man im großen Eröffnungsreigen nicht erwartet hätte. | |
(Dies ist wie die Wiederaufnahme der HAU-Ko-Produktionen „Peaches Christ | |
Superstar“ und „Mein Kampf“ als Statement zu verstehen.) Mroués neues St… | |
ist aber entweder sehr naiv oder über zu viele Ecken herum klug. Wenn an | |
seinem Ende die titelgebende „Ode an die Freude“ erklingt, ist auf der | |
Bühne bereits ein sehr kleines Bett explodiert und ein sehr großes Bild | |
davon entstanden. Die kleinen Tricks, mit denen Mroué und seine Koautoren | |
und -performer Lina Majdalani und Manal Khader den Realitätsgehalt von | |
Livebildern infrage stellen, sind eingängig. | |
Ihr Blick auf die Ende der sechziger Jahre noch als heroische | |
Widerstandskämpfer gefeierten Palästinenser, die nach der Geiselnahme von | |
elf israelischen Olympioniken in München für die Öffentlichkeit auf einen | |
Schlag zu Terroristen wurden (obwohl sie damit doch auf ihre Sache | |
aufmerksam machen und nur „die Bilder entführen“ wollten) fordert jedoch | |
Widerspruch heraus. | |
Als Angehörige eines gequälten Volks ohne Land und Anerkennung gilt auch | |
für die Palästinenser Shylocks Satz „Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die | |
will ich ausüben“ Hat man sie aber ausgeübt, verdient man nicht das Maß an | |
Empathie, das ihnen die Performer hier zuteil werden lassen. Die | |
Palästinenser selbst, die offenbar auf ihre eigene Version der Geschichte | |
verzichteten, sahen das vielleicht sogar ähnlich. | |
13 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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