# taz.de -- Performance Münchner Kammerspiele: Gucci, Gin Tonic und schäbig | |
> Übernachten im öffentlichen Raum: ein Besuch bei „Shabby Shabby | |
> Apartments“, einem anarchischen Wohnexperiment. | |
Bild: Die Erdhütte in München. | |
Man muss schon abenteuerlustig sein. Vielleicht auch masochistisch, | |
idealistisch, asketisch und abgehärtet. Oder einfach nur dick angezogen. So | |
wie Silvia Gonzalez, ausgerüstet mit Skiunterwäsche, Fleecepulli, | |
Daunenjacke, dicken Socken, Stirnlampe. Was man eben so braucht für eine | |
Nacht in einer begrünten Hundehütte vor der Münchner Oper. Silvia, 35, und | |
Nina Krug, 38, haben sie für 28 Euro für eine Nacht gebucht, 1,74 Meter | |
hoch, das schräge Dach mit Rasenstücken begrünt. | |
Vor der Hütte befinden sich Isomatten, ein Kasten Bier, Tomaten, Käse, | |
Reiswaffeln, ein Kartenspiel. Es wird eine lange Nacht. „Dackelgarage“, | |
kräht ein vorbeilaufender grauhaariger Mann und: „Aber dass ihr fei ja | |
gscheid zusperrt.“ Ein elegant gekleidetes Paar fragt Nina und Silvia, was | |
sie hier machen. | |
Wenn das Stadtraumexperiment „Shabby Shabby Apartments“ etwas bewirkt, dann | |
dies: Wildfremde kommen miteinander ins Gespräch, Jung und Alt, Reich und | |
Arm, Konservativ und Alternativ. Aber noch mehr: Die temporären Behausungen | |
sind „eine Polemik dagegen, dass man in München 20 Euro pro Quadratmeter | |
warm Miete zahlt“, hat Matthias Lilienthal, Intendant der Kammerspiele, | |
erklärt. Noch bis 13. Oktober können Abenteuerlustige eine Nacht in einem | |
der 22 Apartments buchen. | |
Teams aus ganz Europa – Künstler, Architekten, Studenten, aber auch | |
Münchner Teenager, die über einen Wettbewerb ausgesucht wurden, haben die | |
spartanischen Behausungen entworfen. Die Vorgabe: möglichst billig. Ein | |
ähnliches Projekt namens „Hotel Shabby Shabby“ hat Lilienthal bereits in | |
Mannheim inszeniert. | |
## Erdhütte und jurtenförmiges Seidenapartment | |
Wolfram P. Kastner hat die Erdhütte mit entworfen. Der Künstler trifft an | |
diesem Abend zufällig auf Nina und Silvia, die nun in seinem Apartment | |
nächtigen. So richtig zufrieden ist Kastner mit dem Projekt im Nachhinein | |
aber anscheinend nicht. Er ist ein streitbarer Geist, der vieles | |
hinterfragt. Er habe Lilienthal vorgeschlagen, Flüchtlinge und Obdachlose | |
umsonst übernachten zu lassen. „Aber das wollten sie nicht.“ Denn: Es passe | |
nicht zum Konzept. Aber ist nicht gerade die Unterbringung der | |
Zehntausenden Flüchtlinge, die in den letzten Wochen in München angekommen | |
sind, eines der drängendsten Probleme der Stadt, fragt sich Kastner. | |
Auf der Maximilianstraße, der teuersten Einkaufsstraße Münchens, steht als | |
Konsumkritik das jurtenförmige Apartment „Reinste Seide“. Als habe jemand | |
vor dem Saint-Laurent-Laden einen Altkleiderhaufen aufgetürmt. Sarah | |
Alfaraj und Abdullah Albannay zücken ihre Smartphones. „Für die Flüchtlinge | |
aus Syrien“, antworten die zwei Touristen aus Kuwait-Stadt auf die Frage, | |
was es damit auf sich haben könnte. Nein, mehr wissen sie nicht, sagen sie | |
und setzen ihre Rollkoffer wieder in Bewegung. | |
## Mülltonne als Wohnung | |
Ein paar Meter entfernt steht Sergej Korpiun. Er hat sich an der | |
Theaterkasse gerade ein Übernachtungsticket geholt. Den Kontrast der | |
spartanischen Hütten zur luxuriösen Maximilianstraße – „unsympathisch, | |
steril, versnobt, geldig und unauthentisch“ – findet der 45-Jährige gut. | |
Dass „Shabby Shabby“ etwas verändert, glaubt er aber nicht: „Es wird kei… | |
Denkanstöße liefern. Die Menschen, die sich damit beschäftigen, sind eh | |
schon sensibilisiert.“ | |
Ortswechsel: am Gärtnerplatz im Glockenbachviertel, beim Partyvolk geliebt | |
für sommerliche Trinkorgien, bei den Anwohnern verhasst für Kotze und Kot | |
im Hinterhof. Auf einem Schiff aus wild zusammengehämmerten Brettern auf | |
zwei Müllcontainern steht der Name „Belafou“. Für eine Nacht gehört es L… | |
Engl und ihrem Freund Thomas Ernst. „Ich wollte mal einfacher wohnen, um | |
mich damit auseinanderzusetzen, was ich daheim wirklich brauche“, erklärt | |
Lina und nippt an einem Gin Tonic. Von ihrem WG-Zimmer gleich um die Ecke – | |
500 Euro für 14 Quadratmeter, unrenoviert – schaut Lina in die Fenster des | |
Luxuswohnturms The Seven. Nachts seien die meist finster, erzählt die | |
32-Jährige. Klar, unbewohnt behalte eine der exklusivsten Münchner | |
Wohnanlagen länger ihren Wert, glaubt die Architektin. | |
Frühstück am nächsten Morgen in der Kantine der Kammerspiele, das die | |
„Shabby Shabby“-Bewohner mitgebucht haben. Eine Kehrmaschine hat Nina und | |
Silvia um acht Uhr vor der Oper geweckt. An ihren Tisch gesellen sich | |
Marta, Werner Schührer und Günter Meyer. Marta und Werner teilen sich eine | |
WG in Schwabing und haben in einer Hütte vor dem Gucci-Laden auf der | |
Maximilianstraße übernachtet, Günter nicht weit entfernt im Apartment M6 in | |
einem Fußgängertunnel. Die beiden Männer sind Architekten, Marta hat im | |
Kulturbereich gearbeitet und ist jetzt Rentnerin. Schnell entwickelt sich | |
eine lebhafte Diskussion. Es geht um Flüchtlinge, Wohnen, Mietpreise, | |
Ausbeutung. Drei der fünf leben in Wohngemeinschaften – aus finanziellen | |
Gründen. | |
## Anschlag auf das Projekt | |
Günter erzählt von einem Mann, den er vor dem Apartment „Reinste Seide“ | |
schimpfen hörte: „Was soll dieser Scheiß mit Lumpen?“ Marta sieht die | |
Übernachtung als „theatrale Inszenierung“, bei der ganz unten und ganz oben | |
aufeinandertreffen: „Ich wusste, dass es Parallelwelten in dieser Stadt | |
gibt“, sagt sie. Aber erst in dieser Nacht habe sie zum ersten Mal bewusst | |
erlebt, wie Luxus und Normalität aufeinanderprallen. Etwa, als der gestylte | |
Gucci-Mitarbeiter vor ihnen mit Kaffee stand, als sie morgens den ersten | |
Blick aus ihrer aus alten Möbelteilen zusammengebauten Hütte „Give & Take“ | |
warfen. | |
Was alle Übernachtenden umtreibt: In der Nacht zuvor ist das Apartment | |
„Yellow Submarine“ abgebrannt, schwere Brandstiftung. Nun steht vor jedem | |
Apartment die ganze Nacht ein Sicherheitsmann. „Der kostet das Vielfache | |
von dem, was ich bezahle“, grübelt Günter. „Ich stehe in der Schuld | |
gegenüber jemandem, der 12 Stunden in der Kälte hockt.“ | |
Das Apartment M6, in dem Günter übernachtet hat, hat die Architektin und | |
Künstlerin Regina Baierl in die Decke eines Fußgängertunnels gebaut. Man | |
sitzt neben ihr auf einer Matratze, darunter laufen Menschen durch die | |
graffitibesprühte Passage. Außen herum Stimmengewirr, Presslufthammer, die | |
Straßenbahn und ein Akkordeonspieler. Sieben Quadratmeter auf zwei Ebenen. | |
Ein weißes Tuch, auf das „Schlafe wohl“ gestickt ist, verdunkelt das | |
neongelbe Licht der Tunnelbeleuchtung nur mäßig. | |
Baierl wohnt selbst nur in zwei Zimmern auf 54 Quadratmetern mit ihrem | |
Mann. Sie glaubt, dass „Shabby Shabby Apartments“ weder eine Antwort auf | |
die Wohnungsfrage darstellt, noch dass man es in Bezug zu den Flüchtlingen | |
setzen kann. „Es ist eine Kunstaktion, ein Experiment.“ Der Verkauf vieler | |
städtischer Immobilien ängstigt sie: „Man gibt die Verfügungsgewalt über | |
seine Stadt auf.“ | |
## Nichts neues | |
Einen Abend später im Alpenhof in Giesing. In diesem Stadtteil gibt es | |
besonders viele der „Shabby Shabby Apartments“, weil sich hier die | |
Gentrifizierung eines ehemaligen Arbeiterviertels aktuell deutlich | |
abzeichnet. Etwa 30 Menschen wollen von Matthias Lilienthal und dem | |
SPD-Politiker Florian Pronold hören, wer sich München künftig noch leisten | |
kann, in einer von etlichen Diskussionen, die als theoretischer Unterbau | |
zum Erlebnis des Übernachtens dienen. | |
Der Intendant prophezeit eine Katastrophe in zehn bis 15 Jahren, wenn | |
nichts passiert, klagt Schuldige an (“Ude und die Stadtpolitik der letzten | |
20 Jahre“). Er warnt vor der Vertreibung von Künstlern, „in deren | |
Ausbildung wir viel Geld stecken“, erzählt von Schauspielern, die Verträge | |
kündigen, weil sie keine Wohnung gefunden haben. Und betont auch: „Wir | |
dürfen trotz der vielen Flüchtlingen nicht die Interessen anderer | |
gesellschaftlich Vernachlässigter aus den Augen verlieren.“ Pronolds | |
Vorschlag, mit Konzeptbau-Modellen 200 Mal dasselbe Wohngebäude | |
hochzuziehen und so Kosten zu sparen, gefällt dem Theatermann auch nicht. | |
Und dann fällt ein ernüchternden Satz: „Wir sagen nichts Neues zum Thema.“ | |
Sei es drum: „Shabby Shabby Apartments“ ist eine | |
absurd-liebenswert-anarchische Aktion, eine gelungene Mischung aus | |
DIY-Kunst, Weltverbesserungsidealismus, Zeltlager und Selbsterfahrung. An | |
den horrenden Mieten in Deutschlands teuerster Stadt und der häufig | |
monatelangen Suche nach einer Wohnung wird das aber leider nichts ändern. | |
30 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Annette Walter | |
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