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# taz.de -- Matthias Lilienthal übers Theatermachen: „Das ist echter Eightie…
> Der Leiter von „Theater der Welt 2014“ über sein Festival, die Einbindung
> des Veranstaltungorts Mannheim und das Leben und Arbeiten in Beirut.
Bild: „Mannheim scheint eine bestimmte industrielle Lebenswelt von Mitte der …
sonntaz: Herr Lilienthal, Ihre letzte Theaterstation war Beirut, wie hat
die Ihren Blick verändert?
Matthias Lilienthal: In einer Gesellschaft wie im Libanon gibt es die
Notwendigkeit von Theater nicht. Es geht viel mehr darum, dass man durch
die nächsten Jahre kommt und am Leben bleibt. Das ist ein anderer Blick auf
das Leben und das Theater, als wenn man das als selbstverständlich gegeben
annimmt.
Haben Sie sich in Beirut wohlgefühlt?
Ja. Als ich zurückkam aus Beirut, hatte ich das Gefühl, dass das Leben in
Deutschland einem Friedhof gleicht. Wenig Menschen auf der Straße, weniger
Flirts, weniger Auseinandersetzung. Wenn man ein Jahr in Beirut lebt,
empfindet man vieles als bisher unbekannt. Zum Beispiel die großen Wechsel,
wenn man durch die Stadt geht. Südbeirut, wo die Hisbollah herrscht,
gleicht einem leicht luxuriösen Teheran. Der christliche Stadtteil, in dem
ich wohnte, da konnte man sich vor Kirchgebimmel kaum retten. Im Vergleich
dazu sind in Mannheim, Berlin oder München die Unterschiede viel geringer.
In Mannheim leiten Sie jetzt das Festival [1][„Theater der Welt“], das Ende
Mai beginnt. Führen nun Spuren von Beirut nach Mannheim?
Es sind relativ viele Arbeiten aus dem Mittleren Osten dabei. Mein
Lieblingsprojekt ist von Rabih Mroué, „Riding on a cloud“. Da erzählt er
die Geschichte seines Bruders aus der Zeit des Bürgerkriegs. Sie waren
Jugendliche, als sie hörten, ihr Großvater sei erschossen worden. Sein
Bruder rannte ohne nachzudenken zu der Wohnung des Großvaters und wurde
dabei von einer Kugel in den Kopf getroffen – seitdem ist er mental und
körperlich leicht behindert. Im Krankenhaus päppeln sie ihn langsam hoch,
nachdem alle gedacht hatten, er würde sterben. Aber er kann Gegenstände auf
Bildern nicht mehr erkennen. Dann rät ihm ein Arzt, das zu kurieren, in dem
er Videofilme dreht. Mit diesen Videos erzählt nun Rabih Mroué die
Geschichte seines Bruders. Man weiß nicht, was erfunden ist, was der
Realität entspricht.
Mit Rabih Mroué haben Sie schon oft zusammengearbeitet. Warum ist gerade er
so wichtig für Sie geworden?
In Beirut gibt es eine streitlustige Intellektuellenszene, die jeden Abend
in drei Kneipen rumhängt, wo sie die Arbeiten der anderen diskutieren.
Durch den Diskurs entsteht eine intellektuelle Qualität. Das zentrale Thema
sind mediale Bilder über Geschichte – und das ist in der Gegenwart ein
wichtiges Thema.
„Theater der Welt“ gibt auch eigene Produktionen in Auftrag, in denen
Künstler, die die gastgebende Stadt bis dahin nicht kannten, sich mit
dieser beschäftigen. Wo docken diese in Mannheim an?
Bei Frank Castorf habe ich gelernt, über den Kontext von Theater
nachzudenken, über die Verbindung des Theaters zu seiner Umgebung. In
Mannheim stand ich irgendwann auf einer Fußgängerbrücke zwischen den drei
Neckartürmen, Wohnhochhäusern aus den siebziger Jahren. Mir kam das bekannt
vor. Mannheim scheint eine bestimmte industrielle Lebenswelt konserviert zu
haben, von Mitte der achtziger Jahre, die sonst in der Bundesrepublik
verloren gegangen ist.
Wie schlägt sich das im Festival nieder?
Für Mannheim arbeiten wir an einer Fortentwicklung des „X
Wohnungen“-Projekts: X Firmen. Ein Performance-Parcours geht durch die SAP:
Wie sieht das zukünftige Modell von Arbeit aus? Zwei andere Touren führen
durch Unternehmen der migrantisch geprägten Innenstadt und ein altes
Industrieareal.
Sie haben das Festival schon einmal geleitet, vor zwölf Jahren. Seither ist
internationales Theater in Deutschland sichtbarer geworden.
Als Ivan Nagel und Renate Klett das Festival 1981 gegründet hatten, war das
Theater von außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt. Die heutige
Entwicklung einer Austauschkultur ist total begrüßenswert, Festivals haben
viel dazu beigetragen, auch wenn sie nun heute vor neuen Fragen stehen.
In diesem Jahr sind mir viele der Künstler wie Philipp Quesne aus
Frankreich oder Toshiki Okada aus Tokio bekannt, zum Beispiel vom HAU in
Berlin.
Eine neue Festivalkategorie könnte sein: durch das 15. Gastspiel richtig
gut geworden. Das gilt zum Beispiel für den brasilianischen Choreografen
Bruno Beltrão, den ich mit „CRACKz“ einlade, einem Stück, das schon auf
vielen Festivals lief. Wir haben aber auch vier Uraufführungen auf dem
Festival, auch wenn womöglich zwei nicht richtig fertig sind, wenn sie
rauskommen. Ein Festival muss nicht nur Neues zeigen, sondern auch Stücke,
die beim Touren besser geworden sind.
Im internationalen Theaterbetrieb entstehen viele Produktionen erst, wenn
mehrere Koproduktionspartner zusammenkommen. In vielen Ländern wird in der
Kultur sehr gespart. Funktioniert da das Finanzierungsmodell noch für
Künstler wie Philippe Quesne oder Okada?
Philippe Quesne ist gerade Intendant in Nanterre geworden, dadurch hat er
auch ein Theater mit einem anständigen Budget. Aber Toshiki Okada oder
Yonatan Levy, den ich aus Israel mit der Produktion „Saddam Hussein“
eingeladen habe – da hat die ganze Produktion 2.000 Euro gekostet. Das ist
sein erstes Auslandsgastspiel. Er lebt davon, dass er 14- bis 18-jährige
Schüler unterrichtet.
Sie haben Jacob Appelbaum eingeladen, die Eröffnungsrede Ihres Festivals zu
halten. Was für eine Idee steckt dahinter?
Als Student habe ich mich sehr für das politische Exil von jüdischen
Bürgern und anderen vom Faschismus Verfolgten in Südfrankreich
interessiert. Mittlerweile ist Berlin zu einem Exil für die Leute geworden,
die die NSA-Krise aufgedeckt haben, und für die Hacker-Szene rund um
Snowden und Assange. Die kommen auch nach Berlin, weil es in der deutschen
Gesellschaft eine Erinnerung an Gestapo und Staatssicherheit gibt. Ich war
nicht sicher, ob man so was wie eine Eröffnungsrede braucht. Dann dachte
ich, dass es schön ist, wenn in der Schillerstadt Mannheim jemand eine Rede
über den Begriff Aufklärung in einem doppelten Wortsinn hält.
Aufklärung ist in der Geschichte des Theaters ein wichtiges Ziel. Inwieweit
geht es auch bei den eingeladenen Projekten um Aufklärung im Sinne einer
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Gegenwart?
Das gelingt immer da, wo die Vergangenheit lang genug zurückliegt, wie bei
Rabih Mroué und dem Bürgerkrieg. Eine Tendenz, die sich bemerkbar macht,
ist: aus sehr unterschiedlichen Ländern gibt es Produktionen, wo die
geschlechtliche Identität der Menschen, die auf der Bühne sind, nicht mehr
klar ist. Wo es um Patchwork-Identitäten geht statt klarer Zuweisung. Da
gibt es viel mehr Zwischenformen als bisher.
Ist das wirklich ein neues Thema?
Es geht jetzt in der Performance-Szene in eine andere Breite. Bei Keith
Hennessy aus San Francisco, der über die Finanzkrise erzählt, wird durch
die uneindeutigen geschlechtlichen Zuschreibungen der Performer
gleichzeitig auch etwas anderes erzählt.
Ein Projekt ist in die Stadt gestreut, das „HOTEL shabbyshabby“, was
verbirgt sich dahinter?
Da geht es darum, die Stadt aus zwanzig verschiedenen Perspektiven zu
erleben: Man kann in Hotelzimmern, die Architekturinteressierte entworfen
haben, auf der Shopping-Mall wohnen oder an der Neckarspitze in fast
idyllischer Natur mit Blick auf die BASF. Es ist aber auch eine Metapher
für das Festival. Bei Reisen schäme ich mich immer, wenn ich sagen muss,
für welches Festival ich arbeite: Theatre of the world. Das ist ein echter
Eighties-Titel. Auf Englisch gesagt impliziert er eine deutsche Arroganz,
die mir total peinlich ist. Die beiden Gewissheiten, was ist Welt und was
ist Theater, sind uns 2014 abhanden gekommen.
10 May 2014
## LINKS
[1] http://www.theaterderwelt.de/de/index.php
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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