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# taz.de -- Theater der Welt in Mannheim: Müßiggang wird Pflichtprogamm
> Von der engen Verflechtung des Arbeitsplatzes und der Identitätsbildung
> erzählt „X Firmen“ – ein auf die Stadt zugeschnittenes Theater in
> Mannheim.
Bild: Mit „X Firmen“ auf der Tour durch Industrieareale in Mannheim.
„Go for quality“, „fail early and often“ und „encourage wild ideas“…
an der Glastür von Raum B 205, einer Denkzelle für „Design Thinking“. In
bunten Schubladen gibt es Wolle, Lego und Zeitschriften, die zu
ungewöhnlichen Ideen inspirieren sollen, während es sonst recht aufgeräumt
aussieht. Doch anstelle kreativ denkender SAP-Mitarbeiter sitzt hier heute
María Martínez, von Beruf Pepenador: Auf einer Halde in Nordmexiko trennt
sie Müll und verkauft ihn, wie schon ihre Mutter und ihre Großmutter.
Denn bei dem Stadtraumprojekt „X Firmen“ beim Festival Theater der Welt
inszenieren Künstler Räume der Mannheimer Arbeitswelt. Eine Tour führt
durch den gewaltigen Gebäudekomplex der Firmenzentrale der SAP AG in
Walldorf, wo rund 16.000 Menschen arbeiten, und gewährt flüchtige Blicke in
eines der größten Software-Unternehmen der Welt.
Matthias Lilienthal, künstlerischer Leiter von Theater der Welt, hat das
Festival 2002 schon einmal kuratiert und dabei das Format „X Wohnungen“
entwickelt: Künstler arbeiten in Wohnräumen an kurzen Szenen und
Installationen, die zu einer Tour zusammengefasst eigenwillige
soziologische Skizzen eines Stadtteiles ergeben: Das wurde ein
Erfolgsmodell, das bis nach Beirut und São Paulo exportiert wurde.
In Mannheim nun ist Lilienthal die Prägung der Stadt durch die
Software-Arbeiter aufgefallen ebenso wie durch die Industrie, ragen doch
die gewaltigen Schlote der BASF in den Himmel. Folgerichtig hat er mit den
Dramaturginnen Nadine Vollmer und Silke zum Eschenhoff „X Firmen“
entwickelt.
## Keine Fragen zur Frauenquote
Es gibt drei Touren: zu SAP, über die Industriestraße und in das
Einzelhandelswesen in der Innenstadt. SAP hat sich für die Theaterbesucher
gewappnet: Wir erhalten Zettel mit Verhaltenshinweisen, und während bei den
anderen Touren die Kleingruppen selbständig mit einer Wegbeschreibung
losziehen, werden uns hier zwei SAP-Mitarbeiter zur Seite gestellt. Katja
ist Beraterin, Uli arbeitet in der Geschäftsführung, hier duzt man sich und
kommt gleich ins Gespräch. Nur Fragen zu Quartalszahlen, Frauenquote und
Amerikanisierung dürfen nicht beantwortet werden.
In den gesichtslosen Bürogebäuden werden vor allem die Zwischenräume
bespielt: Raucherlounges, eine Cafeteria, Konferenzsäle. Von den Büros
sehen wir nur die verschlossenen Türen. Dennoch schaffen die Künstler tolle
Perspektiven auf die vorgefundene Realität: In einem Spiel des Kollektivs
machina eX lernen wir, dass Algorithmen nur einen Arbeitsschritt auf einmal
verkraften – im Gegensatz zu uns, die wir immer zwei weiterdenken.
## Zukunftsvision
In einem Konferenzraum des Open-Office-Bereiches, wo in loungiger
Atmosphäre Gedanken und Arbeitsdynamiken frei fließen sollen, stellen uns
zwei SAP-Mitarbeiterinnen eine reizvolle Zukunftsvision vor: Im Jahr 2029
ist die alles verschlingende Macht des Kapitals einer Gemeinwohl-Ökonomie
gewichen, der Leistungsgedanke wurde systematisch geschrumpft und Müßiggang
zum Pflichtprogramm. Die im Open Office exponierte Zukunftsgewandtheit des
Unternehmens treibt die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes so konsequent weiter.
Auch andere Künstler knüpfen an die geforderte Kreativität der Mitarbeiter,
ihr Imaginations- und Kommunikationsvermögen als wirtschaftsfördernde
Faktoren an: Alexander Giesche beispielsweise findet ein hübsches Bild für
den berüchtigten „Flow“ und treibt im Luftstrom von Windmaschinen eine
Rolle Klopapier zu fantastischen Tänzen empor.
Von den Plätzen der immateriellen Arbeit geht es in die ungleich buntere
Mannheimer Innenstadt zur Quadratetour, ein dankbarer und angenehmer
Kontrast. Im migrantisch geprägten Einzelhandelswesen stellen die Künstler
in zurückgenommenen, aber einnehmende Mikroerzählungen die Läden und ihre
Inhaber vor.
## Die politische Dimension der Haare
Viele Verbindungen sind dabei passgenau: Im Nishas Beauty Saloon ist die
Black Community zuhause, hier berichtet die schwarze Regisseurin Simone
Dede Ayivi vom „Kampf mit der Krause“ und von der politischen Dimension der
Frage, ob man sich die Haare glättet oder nicht. Und in der schlicht
anmutenden „Muckibude“ im Hinterhof bietet die philippinische Tänzerin Eisa
Jocson Stellvertreter-Workouts an: Im engen Blickkontakt mit einem
Zuschauer vollzieht sie an den Geräten beispielsweise einen „lower back
job“ und arbeitet die erotische Dimension des Trainings heraus.
So schafft „X Firmen“ in fünf Stunden ein vielschichtiges Mosaik der
zeitgenössischen Arbeitswirklichkeit. Und so verschieden die Arbeit an
digitalen Schnittstellen und das Handwerk des türkischen Männerfriseurs auf
den ersten Blick sein mögen, beide setzen eine Identifikation der
Mitarbeiter mit ihrer Tätigkeit voraus und verknüpfen Werktätigkeit und
Identität aufs Engste miteinander.
5 Jun 2014
## AUTOREN
Esther Boldt
## TAGS
Theater der Welt
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