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# taz.de -- Festival "Theater der Welt" in Halle: Die große Lücke bleibt
> Von neuen Lebensmöglichkeiten ist wenig die Rede beim Festival "Theater
> der Welt" in Halle. Dabei leiden auch die Vorstadtjugendlichen in
> "X(ics)" der italienischen Gruppe Motus an diesem Mangel.
Bild: "X(ics) - Grausame Erzählungen der Jugend": Das Ensembles Motus aus Ital…
Vielleicht ist ja die prägende Erfahrung des In-der-Welt-Herumreisens heute
gar nicht mehr, viele unterschiedliche Kulturen, Geschichten und Menschen
kennenzulernen, sondern auf so viele Ähnlichkeiten zu stoßen. Eindrücke und
geografische Zuordnungen verschwimmen jedenfalls, wenn man in Halle an der
Saale durch Kopfsteinpflastergassen spaziert, entlang historischen
Fassaden, die an vielen Orten stehen könnten. Erst die
Innenstadtplattenbauten erinnern wieder daran, wo man sich geografisch und
historisch befindet.
Auf der Bühne der Kulturinsel, Halles Stadttheater, sieht dann auch das
Plattenbauviertel Halle-Neustadt in dem Video-Musik-Theaterprojekt "X(ics)"
nicht viel anders aus als das Niemandsland einer französischen Banlieue.
Nach Valence und Ravenna ist Halle der dritte Ort, an dem die italienischen
Regisseure Enrico Casagrande/Daniela Nicolò und ihre freie Theatergruppe
Motus recherchiert haben. Ihr Projekt ist Teil des Festivals "Theater der
Welt", das noch bis Sonntag läuft, und viele der internationalen Künstler
als artists in residence eingeladen hat, damit Beobachtungen aus der Stadt
in die Projekte einfließen. Für diese lokale Verankerung hat es schon am
Eröffnungswochenende viel Beachtung gegeben, und das erweist sich auch in
der zweiten Festivalhälfte als geschickter Schachzug: Man erwartet in Halle
eigentlich Graues, fühlt sich in der Stadt jedoch sofort wohl und
streichelt ihr im Gegenzug die Seele.
Motus Schwarzweißaufnahmen im Hiphop-Look bilden auf der Bühne die Kulisse
für eine Straßenchoreografie. Eine Skaterin mit Punkfrisur donnert gegen
Bürgersteige, es wird auf Bassgitarren geklimpert, zwei Jungs in Anoraks
liefern sich gegenseitig Mutproben, alles mit geschmeidiger Street-Coolness
der Körper, während im Hintergrund die Bilder einer erstarrten
Betonarchitektur den Rhythmus vorgeben.
Die versprochene "ortsspezifische" Vielfalt von Zeichen und Klängen kann
man zwar nicht entdecken, aber doch ein allgemeingültiges Gefühl, dass der
Rest der Welt an solchen Orten nicht mehr das Sehnsuchts-, sondern das
Hassobjekt von Heranwachsenden ist. Aus diesem Blickwinkel unterscheidet
sich Halle-Neustadt nicht mehr von anderen Vorstädten, trotz seiner ganz
eigenen Geschichte.
Kein Wort zu viel in "X(ics)" von der Entstehung des Viertels als erste
sozialistische Mustersiedlung. Der damalige Optimismus scheint wie eine
tief begrabene Vergangenheit. Es ist die Unsicherheit, die weitervererbt
wird. Kurz vor Schluss erzählt die Stimme einer Jugendlichen, die hier
aufwuchs, dass sie bei der Wende sechs Jahre alt war und doch eine sehr
genaue Erinnerung hat: daran, dass die Mutter und der Vater, der bei der
Volksarmee war, ständig davon sprachen, wie es jetzt weitergehen soll.
Immer noch scheint die Frage, wie die Wende erlebt wurde, in Gesprächen mit
Ostdeutschen unvermeidbar zu sein, wohl erst recht, wenn Künstler aus
anderen Teilen der Welt anreisen und sich in der Geschichte auf Spurensuche
begeben. Themen wie die hohe Arbeitslosigkeit, die Abwanderung oder
Ausländerfeindlichkeit wirken auf dem Festival dagegen wie umschifft, als
wolle man den Blick mehr auf die Reichtümer der Stadt lenken.
Von neuen Lebensmöglichkeiten ist wenig die Rede. Man sieht zwar einiges
von Halle und Umgebung, fährt zum Flughafen oder in das nahe Kursdorf, das
unter dem Ausbau des Flughafens leidet. Von den "Stadt(ver)- führungen",
die täglich stattfinden, nimmt man kulturhistorische Anekdoten mit nach
Hause, dass in Halle ein Attentat auf Napoleon geplant wurde oder die
Universität im 18. Jahrhundert den farbigen Privatdozenten Anton Wilhelm
Amo beschäftigte. Aber von den heute in der Stadt lebenden Menschen erfährt
man im Grunde wenig.
Stattdessen absurde Wiederholung von Geschichte. Massimo Furlan stellte im
Kurt-Wabbel-Stadion neunzig Minuten lang das Fußballduell BRD - DDR nach,
das am 22. Juni 1974 mit einem 0:1 endete. Kleine Transistorradios
übertragen dazu die originalen Radiokommentare Ost und West, doch statt
ideologie-entlarvend wirkt das eher wie ein Nostalgie-Angebot. Man darf
beim Abspielen der DDR-Nationalhymne aufstehen, und verblüffenderweise
erheben sich die Stadionbesucher tatsächlich von den Sitzen.
Auf der Trabbi-Rundfahrt, Teil der "Stadt(ver)führungen", durch Halle-Ost
bis zu Genschers Geburtshaus halten die neun Wagen an einer Bäckerei, um
für die Kaffeepause Kuchen einzukaufen. Die künstlich erzeugte Schlange im
Laden reicht bis auf die Straße, Alltagsleben in der Mangelwirtschaft. Die
Trabbi-Fahrer, alles Schauspieler der Stadt, machen sich einen Witz daraus.
Und doch sieht das nachgerade harmlos aus im Gegensatz zu der
Entschlossenheit, mit der die israelische Regisseurin Yael Ronen in "Dritte
Generation" einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen will.
Deutsche, Israelis und Araber spielen auf der Basis von Improvisationen in
Alltags- und Familienszenen Konflikte der Gegenwart nach, die den
verhärteten politischen Positionen entsprechen. Niemand wird geschont,
Klischees werden benutzt, Schwächen schonungslos aufgedeckt - ein Ausbruch
aus den Zuschreibungen der Geschichte, von dem man in Halle gerne noch mehr
gesehen hätte.
3 Jul 2008
## AUTOREN
Simone Kaempf
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