# taz.de -- Theater des Jahres: Berlin darf sich mal freuen | |
> Das neue Jahrbuch von „Theater heute“ ist erschienen und mit ihm die | |
> Kritikerumfrage: Das HAU aus Berlin ist Theater des Jahres. | |
Bild: Sophie Rois (re.) ist die Schauspielerin des Jahres. | |
Die Kritiker haben gewählt, Berlin kann sich freuen. Das Berliner HAU, das | |
Matthias Lilienthal bis zum Sommer geleitet hat, und die Berliner | |
Volksbühne liegen vorne in der Umfrage, die von der Zeitschrift Theater | |
heute einmal im Jahr unter 42 Kritikern des deutschsprachigen Theaters | |
vorgenommen wird. | |
Mit acht Stimmen ist das HAU nach 2004 zum zweiten Mal zum Theater des | |
Jahres geworden, die Volksbühne folgt mit sieben Stimmen. Beide Häusern | |
bestritten zuvor schon im Mai dieses Jahres die Hälfte des Theatertreffens | |
– und das ist für einige Kritiker (mit Sitz in Berlin) sonst oft die letzte | |
Gelegenheit vor der Stimmabgabe, noch ein paar Inszenierungen aus anderen | |
Städten zu sehen. | |
Nun legt die Berliner Dominanz nahe, einmal die Berliner unter den | |
wählenden Kritikern zu zählen – tatsächlich mindestens 16 von 42. (Eine | |
davon bin ich, in Vertretung der taz.) Ehrenhalber sei gesagt – nicht alle | |
aus Berlin haben für die Berliner Häuser gestimmt, das HAU und die | |
Volksbühne haben auch ein paar Stimmen von außerhalb bekommen. | |
Trotzdem, für viele der Abstimmenden gilt, dass man von den Theatern der | |
eigenen Stadt wesentlich mehr gesehen hat als anderswo, die Möglichkeiten | |
zum Vergleich, abends live im Theater, zum Reisen in andere Städte sind | |
begrenzt, Zeit- und Geldmangel stehen dem im Weg. Das schränkt das | |
Vertrauen in die Aussagekraft der Umfrage doch etwas ein. | |
## Act local, think global | |
Missen möchte man sie dennoch nicht, sowenig wie das Theatertreffen. Beide | |
Instrumente helfen die lokalen Theaterszenen, ein wenig jedenfalls, ins | |
Verhältnis zu setzen, sich über das Ausscheren aus dem bekannten Kreis von | |
Namen zu freuen, aber auch Entwicklungen zu verfolgen. Act local, das ist | |
im Theater einfach, das geht gar nicht anders, aber think global, dafür | |
eben braucht es Zusatzkräfte. Dafür steht die Auszeichnung des HAU, das | |
kein eigenes Ensemble hat, aber viele assoziierte Künstler international, | |
eben auch. | |
Zum Schauspieler des Jahres wurde Sebastian Rudolph gewählt für sein agiles | |
Gleiten zwischen Faust und Mephisto in Nicolas Stemanns Inszenierung „Faust | |
I - II“ (Koproduktion Thalia-Theater Hamburg und Salzburger Festspiele) und | |
diese facettenreiche Erkundung des klassischen Stoffs gleich auch zur | |
besten Inszenierung. Sophie Rois heimst für ihre hohe Frisuren | |
balancierende Fabrikantengattin in „Die spanische Fliege“ von Herbert | |
Fritsch (Volksbühne Berlin) den Titel als beste Schauspielerin des Jahres | |
ein, die Inszenierung kam auch sonst gut weg in der Umfrage. | |
Also alles gut in Berlin? Das will nun das Jahrbuch von Theater heute, das | |
mit diser Umfrage stets jede Menge Erfolgs- und Ticker-Meldungen | |
produziert, auch nicht so einfach im Raum stehen lassen. Erstens weiß man | |
ja, dass Matthias Lilienthal gerade auf dem Sprung nach Beirut ist, seine | |
Nachfolgerin, Annemie Vanackere, ist für Berlin noch eine unbekannte Größe. | |
## Die Wurstigkeit der Gekürten | |
Zweitens ist das Gesicht der Volksbühne neben den bejubelten Produktionen | |
von Pollesch, Fritsch und den Gästen aus Norwegen, immer noch von Frank | |
Castorf geprägt, der seinem Publikum längst nicht so entgegenkommt wie | |
seine Kombattanten. Deshalb ist die Umfrage von einem kritischen Text von | |
Christine Wahl begleitet, über die Wurstigkeit der Gekürten (Castorf und | |
Lilienthal) und den Masochismus der Berliner, sich dem gerne auszusetzen. | |
Zudem benennt ihr Text auch die wunden Punkte der großen Berliner Bühnen. | |
Was dieses Jahrbuch aber vor allem interessant macht, sind Essays und | |
Gespräche über die Konjunktur des Begriffs der Kreativität. „Immer diese | |
Selbstverwirklicher im Publikum“ seufzt René Pollesch und stöhnt über die | |
Kreativen, die den Künstler zu einem Überdenken des Verhältnis zwischen | |
Darsteller und Publikum zwingen, alte Tauschverhältnisse außer Kraft | |
setzen. Franz Wille, Chefredakteur von Theater heute, nimmt diesen Ball auf | |
und misst daran die veränderten Herausforderungen für das Stadttheater. | |
Und ein Text des Kultursoziologen Andreas Reckwitz gilt der Kreativität als | |
inzwischen an beinahe jedem Arbeitsplatz geforderte softskill, ihre | |
Verklärung zur alles lösenden Wunderwaffe in einem sozialen | |
Kriterienkatalog. Neu ist diese Bestandsaufnahme nicht – aber die Texte, | |
die diese Verschiebung von der Freiheit der Kunst zur Norm des Alltags | |
reflektieren und beschreiben, wo und wie die Kunst darauf noch reagieren | |
kann, machen das Jahrbuch lesenswert. | |
6 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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Theater | |
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