# taz.de -- Theater-Bilanz im Norden: Auf Klaras Krankenstation | |
> Performance-Installation, Überforderungstheater und Puppenshow: ein | |
> subjektiver Blick auf besondere Momente des Bühnenjahrs 2015 im Norden. | |
Bild: Unvergesslich intensiv: „Söhne & Söhne“ vom Kollektiv Signa, hier i… | |
BRAUNSCHWEIG taz | Für mich war es der intensivste Moment im vergangenen | |
Theaterjahr: die Krankenstation von Schwester Klara. Da lagen wir in | |
schmiedeeisernen Fünfzigerjahre-Betten und warteten auf das Ende. Schwester | |
Klara, die in ihrem taillierten Schwestern-Dress aussah wie aus einer „Ma | |
Men“-Folge entsprungen, ging von Bett zu Bett und sprach mit jedem | |
Patienten über den Tod. Ob ich schon wisse, wie ich mir meine Beerdigung | |
vorstelle, hauchte mir die junge Frau ins Ohr. Währenddessen weinte im Bett | |
neben mir ein älterer Mann – Klara hatte ihn gefragt, wann er das letzte | |
Mal einen geliebten Menschen verloren habe. | |
## Grenzüberschreitung | |
Die Performance-Gruppe Signa ist bekannt dafür, Grenzen zu überschreiten. | |
Und auch wenn die Produktion „Söhne & Söhne“ am Hamburger Schauspielhaus | |
nicht ihre stärkste ist, die Methode bleibt einzigartig. Keine Geschichten | |
erzählt Signa auf der Bühne, stattdessen werden die Besucher zum Teil einer | |
fiktiven Realität. Und jeder nimmt in den mehrstündigen Performances | |
irgendwann die Theaterrealität als echt hin – und in der Erinnerung bleibt | |
eine wirkliche Erfahrung. | |
Eine Woche später sitze ich zu Hause auf dem Bett. Um 21.47 Uhr werde ich | |
meinen ersten Auftrag von „Söhne & Söhne“ erhalten, stand auf dem kleinen, | |
mit Schreibmaschine geschriebenen Zettel, den ich als neues Mitglied der | |
weltweiten Psycho-Sekte erhalten habe. Einer Sekte, die beim genaueren | |
Hinsehen unserem Wirtschaftssystem nicht unähnlich ist: Alles dreht sich um | |
Optimierung der eigenen Leistungskraft, bis hin zum Tod, auch ohne | |
Schwester Klara. | |
## Avantgarde mit Patina | |
Im Vergleich dazu hat der ähnlich zeitintensive Theaterzauber Frank | |
Castorfs fast schon wieder Patina angesetzt. Bei der Premiere von Hans | |
Henny Jahnns „Pastor Ephraim Magnus“, ebenfalls im Deutschen | |
Schauspielhaus, sitzen wir brav im Zuschauerraum und beobachten das | |
altbekannte Szenario. Eine labyrinthartige, drehbare Installation hat der | |
Bühnenbildner Aleksandar Denić auf die Bühne gebaut: verschlungene Gänge, | |
irgendwo zwischen einem bürgerlichen Herrenhaus, einer barocken Kirche und | |
einer Folterkammer. Dazwischen irren Menschen umher, wie immer bei Castorf | |
auf Sinnsuche, begleitet von einem Kamera-Team. Was wir nicht sehen können, | |
zeigen die Leinwände – fünf Stunden lang. | |
Fünf Stunden, die wie Signa überfordern, aber wenig zurücklassen außer | |
einem Pastor, der ausbrechen will aus einem verlogenen, bürgerlichen Leben | |
und sich sabbernd und schnaufend auf den Weg macht durch ein Jahrhundert, | |
zwischen Nazi-Fahnen und Burschenschaften, typisch Castorf eben, immer noch | |
faszinierend, aber faszinierend wie ein alter Hitchcock-Film – die | |
Avantgarde von einst ist alt geworden. | |
## Behäbigkeit ausgetrieben | |
Jede Behäbigkeit aus dem Stadttheaterbetrieb ausgetrieben hat dagegen | |
dieses Jahr in Braunschweig die junge polnische Regisseurin Marta Górnicka. | |
Bei der Premiere ihrer Brecht-Adaption „M(other) Courage“ hört man raunen, | |
sie habe auf Durchzug gestellt, wenn Dramaturgen sie über die | |
Notwendigkeiten eines Theaters aufklären wollten, das nicht über die | |
Stränge schlagen soll. Oder noch schlimmer: Sie habe auf | |
Sprachschwierigkeiten verwiesen und einfach weitergemacht, genau so, wie | |
sie es will, ohne Kompromisse und Zugeständnisse an den Betrieb. | |
Herausgekommen ist ein Chor-Abend, der weniger als eine Stunde dauert, es | |
aber in sich hat. 20 raunende und wispernde Menschen stehen auf der Bühne: | |
deutsche Befindlichkeiten, Pegida-Gesänge und Gegendemos. Górnicka hat das | |
Deutschland des Jahres 2015 aufgesaugt und in einen Klangteppich | |
verwandelt. Jetzt steht sie da, im Scheinwerferlicht im Zuschauerraum, und | |
dirigiert die Chöre, die sie nicht verstehen kann. Englische Übertitel, nur | |
für sie, weisen ihr den Weg in diesem kleinen Theaterwunder, das die | |
ansonsten wohltemperierte Braunschweiger Theaterwelt alt aussehen lässt. | |
## Narzisstischer Allende | |
Wie auch das Festival Theaterformen, das zum ersten Mal in diesem Jahr | |
unter der neuen Leitung von Martine Dennewald in Hannover stattfand. Ihr | |
gelang es, vor allem mit einer starken Eröffnungsinszenierung zu punkten. | |
Mitten in der Griechenlandkrise zeigten die Theaterformen die Geschichte | |
des chilenischen Präsidenten Salvador Allende aus einer neuen Perspektive. | |
Aus dem linken Idol wird dabei ein Narzisst im Präsidentenpalast, einer, | |
der sich an die eigene Ideologie klammert und darüber das Volk vergisst, | |
der den Putsch billigend in Kauf nimmt für seinen Platz in den | |
Geschichtsbüchern. Am Ende krabbelt er auf der Bühne hinter seinem | |
Schreibtisch herum, bevor sich das Bild des Präsidentenpalastes rot färbt – | |
und die Zuschauer entlassen werden in die Gegenwart, in der gerade auch | |
zwei Politiker mitten in Europa mit der Zukunft ihres Landes Poker spielen: | |
Mehr als einmal fällt im Foyer der Griechenland-Vergleich. | |
## Bessere Zukunft | |
Das Deutsche Schauspielhaus hat zum Jahresende noch einen weiteren Moment | |
jenseits der gepflegten Kunst-Produktion der Konkurrenz geschaffen. Eine | |
riesige Dampflokomotive bricht durch die Betonwand des Malersaals. Mit | |
Aljoscha Stadelmann besteigt ein bärtiger Jahrhundert-Lokführer diesen | |
Fortschrittsexpress durch die Zeiten. Mit Günther Anders’ „Antiquiertheit | |
des Menschen“ haben der Dramaturg Christian Tschirner und die | |
Puppen-Performerin Suse Wächter ein sperriges zweibändiges Werk der | |
Philosophie-Geschichte ausgegraben – mit beängstigenden Parallelen zur | |
Gegenwart. | |
Der Mensch ist unfähig, seine Maschinen zu beherrschen, geradezu antiquiert | |
im Vergleich zu den von ihm geschaffenen, perfekten künstlichen Geschöpfen. | |
Ein sprechendes Skelett ermahnt auf der Bühne einen Kinderchor, an die | |
Zukunft zu denken. | |
Die singen zum Schluss brav vom Waleretten und einer besseren Welt – lauter | |
gute Vorsätze zum Jahresende –, während die Lokomotive des Fortschritts | |
ungebremst gen 2016 weiterrast. | |
1 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Alexander Kohlmann | |
## TAGS | |
Signa | |
Deutsches Schauspielhaus | |
Elfriede Jelinek | |
Theater | |
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