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# taz.de -- Roman über die Wendezeit: Utopia in Seepferdchenform
> „Kruso“ ist ein Stück Ostpoesie: Der Autor Lutz Seiler nutzt die
> Weltliteratur als Schutzmantel und schreibt das richtige Buch zur
> falschen Zeit.
Bild: In der Waagerechten gedacht ein Zeichen für Freiheit und Utopie.
Es ist der Abstand, der nicht stimmt. Und aus diesem Grund hat Alexander
Krusowitsch, genannt Kruso oder auch Losch, seine eigene Karte erstellt;
eine Karte, in der auch die Wege der Toten verzeichnet sind, derjenigen,
die das Land verlassen wollten und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben,
obwohl das Ziel doch deutlich vor Augen liegt: Dänemark, die Insel Mon,
näher, als die offiziellen Karten es behaupten, „die gefälschte Größe des
Meeres, gefälschte Weite, falscher Horizont“.
Ein Eiland als Aussichtsposten auf die Freiheit, jedenfalls auf eine der
Spielarten von Freiheit: Hiddensee, ein langgestrecktes Utopia in
Seepferdchenform. Christoph Hein hat in seiner Erzählung „Der Tangospieler“
seinen Protagonisten Hans-Peter Dallow dorthin reisen lassen. Dallow findet
eine Anstellung im Ausflugsrestaurant „Zum Klausner“, wie ein gestrandetes
Schiff hoch über den Klippen gelegen.
Dort hat auch, wenn man den Erzählungen Glauben schenken will, der 1963
geborene Schriftsteller Lutz Seiler im Jahr 1988 als Aushilfskraft
gearbeitet. Und eben dorthin schickt Seiler wiederum nun in seinem Roman
„Kruso“ seine Hauptfigur Edgar, genannt Ed, Bendler.
Ed, 24 Jahre alt und Student der Literaturwissenschaft in Halle, bricht aus
seinem Leben aus, weil das Unglück darin eingebrochen ist: G., seine
Freundin, ist von einer Straßenbahn überfahren worden; es muss etwas
geschehen. „Kruso“ ist seit seinem Erscheinen vor rund zehn Tagen in
sämtlichen bislang erschienenen Rezensionen geradezu hymnisch gefeiert
worden, und man müsste ein bornierter Leser sein, um nicht zu erkennen,
dass sämtliches Lob, das über dem Roman ausgeschüttet wurde, seine
Berechtigung hat.
## Die überzeitliche Ebene
Worin die große Stärke von „Kruso“ liegt, wird von Beginn an deutlich, au…
wenn es eine kurze Strecke braucht, bis man in den rhythmischen Sog der
Sprache Lutz Seilers, der als einer der bedeutendsten Lyriker des Landes
gilt und mit „Kruso“ seinen ersten Roman geschrieben hat, hineingezogen
wird: Es ist die kunstvolle Verwobenheit einer überzeitlichen, mystischen,
an literarischen Anspielungen reichen oder gar überreichen Ebene mit den
konkreten zeitgeschichtlichen Ereignissen.
Es ist der Sommer des Jahres 1989, in dem Ed sich auf den Weg macht, und
allein schon die Schwierigkeiten, die es einem Bürger der DDR bereitet
haben muss, Hiddensee, den nördlichen Vorposten in der Ostsee, zu
erreichen, vorbei an Kontrollen, misstrauischen Blicken, Verdachtsmomenten
und Schikanen, illustrieren die Nervosität des Staatsapparates.
Es ist der Beginn einer Umbruchszeit, die aber auf jener Insel Hiddensee,
wie Lutz Seiler sie nach und nach entfaltet, erst insofern von Bedeutung
ist, als dass sie das Ende eines auf der Insel installierten Gegenreiches
einläutet. Ed, ein Echo auf Ulrich Plenzdorfs Edgar Wibeau, landet,
strandet also auf der Insel; ein Freitag, der alsbald von seinem Robinson
Krusowitsch aufgenommen und im Klausner als Spülkraft angelernt wird.
Dass diese Robinson-Crusoe-Analogie dem Roman hin und wieder etwas
aufdringlich und künstlich aufgepappt wird, gehört zu seinen wenigen,
sozusagen systemimmanenten Schwächen. Kruso ist der ungekrönte Herrscher
von Hiddensee, das geistige Zentrum, ein Anführer, Wortführer, einer, der
sich auskennt. Im Alter von sechs Jahren ist Krusowitsch, Sohn eines
russischen Generals und einer ebenfalls tödlich verunglückten
Zirkuskünstlerin, nach Hiddensee gekommen.
## Opfer des Systems
Es ist nicht Krusos einziger Verlust: Seine Schwester Sonja ist auf der
Ostsee gestorben, ein Opfer des Systems. Ed wird Krusos Schüler in der
Klausner-Truppe, die eine wilde Mischung aus Hippie-Kommune,
quasireligiöser Gemeinschaft und literarischem Zirkel darstellt. Auch hier
wieder diese Doppeldeutigkeit zwischen der realistischen Darstellung von
DDR-Verhältnissen und poetischer Überhöhung.
Im Klausner arbeiten die Sonderlinge und die Subversiven; ein promovierter
Philosoph, Spitzname „Rimbaud“, ein promovierter Soziologe, genannt
„Cavallo“, Randständige des Systems, die auf Hiddensee einen ganz eigenen
Begriff von Freiheit entwickelt haben: Da unten am Strand die Suchhunde und
Patrouillen, da oben auf dem Felsen wir. Poesie ist Widerstand. Und eine
Rettung. Denn Krusos Idee von Freiheit ist eben nicht die Flucht nach
Dänemark über die tödliche Ostsee, sondern die innere Freiheit in der
Dichtung.
Diese Idee übersetzt Lutz Seiler in Sprache, in einen ungemein schönen,
klingenden, von Manierismen freien Tonfall, der, auch wenn es eine Floskel
ist, den Lyriker erkennen lässt, ohne ihn auszustellen. Ein tolles Buch mit
prägnanten Einfällen. Und doch auch ein Buch, das, obgleich über jeden
ästhetischen Zweifel erhaben, eine Frage aufwirft, die mit dem zu tun hat,
was man einen ost-west-deutschen Literaturkonflikt nennen kann: Während,
die Pauschalisierung sei erlaubt, westdeutsche Autoren es sich gestatten,
hemmungs- und manchmal auch schamlos realistisch drauflos zu erzählen,
führen ostdeutsche Schriftsteller im Grunde genommen die literarische
Verstellung, die Undercover-Arbeit auf halbwegs sicherem Terrain, zu der
die DDR sie gezwungen hat, bis heute fort.
Die Weltliteratur als Schutzmantel. Das lässt sich beispielsweise an Kurt
Drawerts Kaspar-Hauser-Geschichte „Ich hielt meinen Schatten für einen
anderen und grüßte“ festmachen, an Uwe Kolbes im Frühjahr erschienenen
Roman „Die Lüge“ oder eben nun auch an Lutz Seiler, auch wenn dieser im
großartigen und beklemmenden Epilog von „Kruso“ einen radikalen Schnitt in
die Realität vollzieht und Ed, dann nicht mehr in der dritten, sondern in
der ersten Person, auf die Spur der in der Ostsee gestorbenen
Republikflüchtlinge setzt.
## Ein literarisches Versteckspiel
Es ist also ein Versteckspiel, das als literarisches Versteckspiel erzählt
wird. Also ein Pleonasmus. Das ist kein Vorwurf, aber eine Diagnose. Und es
muss dieses Verfahren nicht ästhetisch infrage stellen, wenn man nach dem
Erkenntniswert eines Romans wie „Kruso“ fragt. Denn der Klausner und seine
Crew, diese zwölf Jünger, die sich bereits nach der Öffnung der ungarischen
Grenze in alle Winde verstreuen, weil der Kruso’sche Hortus conclusus
angesichts der politischen Ereignisse seine Strahlkraft, seine Magie
verloren hat – er hat, bei aller Todesnähe, auch etwas Heimeliges.
„Kruso“ ist ein perfekter Roman, aber es ist auch ein durchaus
sentimentales Buch, ein historischer Roman aus einer abgeschlossenen
Epoche. „Kruso“ steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, neben
Thomas Hettches „Pfaueninsel“ gilt der Roman als großer Anwärter auf die
Auszeichnung. Auf der Shortlist steht auch Thomas Melle mit seinem Roman
„3000 Euro“. Wer das liest, dem vergeht umgehend jedes Wohlgefühl. So sieht
es unten aus, ganz unten. Ist das ein Argument, Gegenwartsnähe?
Möglicherweise ja.
Wenn eine spätere Generation in 30 oder 40 Jahren zurückschaut und wissen
will, was diese DDR war, was sie mit Menschen gemacht hat, zu welchem
Denken, zu welchem Verhalten man dort gezwungen war und welche Freiräume
man sich schaffen konnte, wie es da aussah, roch und schmeckte – dann wird
man, neben den Romanen von Wolfgang Hilbig, wahrscheinlich zu Uwe Tellkamps
„Turm“ und Lutz Seilers „Kruso“ greifen. Vielleicht gibt es das: „Kru…
ist das richtige Buch zur falschen Zeit.
16 Sep 2014
## AUTOREN
Christoph Schröder
## TAGS
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Freiheit
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