| # taz.de -- Neuer Roman von Uwe Tellkamp: Gegenwartssuppe | |
| > Uwe Tellkamp legt eine Fortsetzung seines Erfolgs „Der Turm“ vor. Auf 900 | |
| > Seiten pflügt „Der Schlaf in den Uhren“ durch die Zeit seit dem | |
| > Mauerfall. | |
| Bild: Chronik seit dem Mauerfall: Helmut Kohl (4.v.l.) 1989 in Dresden | |
| Literatur ist kein Ponyhof. Aber womöglich ein Refugium für Oktopusse? | |
| Wie auf so vieles kommt der Schriftsteller Uwe Tellkamp in seinem neuen | |
| Roman „Der Schlaf in den Uhren“ auch auf solche Tiere zu sprechen. Auf | |
| Seite 220 verwandelt sich der Ich-Erzähler, die Geräusche in einem Haus | |
| wahrnehmend, gedanklich in diese Spezies: „… der Oktopus aber, der ich | |
| werden würde, hatte keine Knie, die seine Erkundungen behindern würden, | |
| mußte [sic!] er doch, ganz aus Sinneszellen bestehend, in alle Wohnungen | |
| des Hauses Wolfsstein, durch Rohre und Elektroleitungen, Mörtelfugen, | |
| Schlüssellöcher dringen können, in alle Wohnungen des Viertels, ja der | |
| ganzen Stadt“. | |
| Eine Erzählung, die mit unabhängig voneinander wahrnehmenden Fangarmen die | |
| Fugen, Spalten und Abgründe der Gesellschaft abtastet, damit ist eine der | |
| erzählerischen Bewegungen, die dieser Roman vollzieht, tatsächlich ganz gut | |
| beschrieben. Doch es ist nicht die einzige Bewegung. (Das ß schreibt | |
| Tellkamp übrigens durchgehend nach alter Rechtschreibung.) | |
| Etwa 100 Seiten später – 900 Seiten hat dieser lange, mäandernde, sich erst | |
| allmählich, wenn überhaupt, zu etwas Ganzem formende Roman insgesamt – | |
| tauchen wieder Oktopusse auf, diesmal in einem ganz anderen Zusammenhang. | |
| Wir sind da auf einer Housewarmingparty der besseren bundesrepublikanischen | |
| Gesellschaft, eine DJane macht Musik, man hält sich an den Weingläsern | |
| fest, der Erzähler kämpft mit Minderwertigkeitskomplexen, ein japanischer | |
| Starkoch bereitet das Essen – und in der Suppe, die gereicht wird, treiben | |
| Baby-Oktopusse: „Wenn ich umrührte, schienen die Ärmchen einander in Slow | |
| motion, wie der Filmemacher sagt, zuzuwinken.“ | |
| Einem Erzähler, der sich vorher noch mit diesen Tieren identifiziert hat, | |
| muss diese Suppe als Gipfel der Dekadenz erscheinen. Zugleich rührt Uwe | |
| Tellkamp in dieser Szene viel zusammen: Spitzenpolitik und | |
| Kulturbourgeoisie, Partytrends und Political Correctness als | |
| Smalltalkthema. Das ist ein gutes Beispiel für die zweite Bewegungsform | |
| dieses Romans. Beherzt pflügt er, die Wendung SUV-artig fällt einem ein, | |
| durch die Diskurse und Themen seit der Wiedervereinigung. Und statt zu | |
| tasten, fällt er dabei oft in einen karikierenden Stil. | |
| ## Selbstgedichtetes Kinderlied | |
| Es gibt noch eine dritte Bewegung: die des Anhaltens der Zeit. Das sind | |
| wiederum gelegentlich wie losgelassene, sogar sentimentalisch anrührende | |
| Szenen. So erfährt man einiges darüber, wie es war, in der späten DDR als | |
| Filmvorführer in einem Kino zu arbeiten. Das Handwerk des Vorführens von | |
| Zelluloid meint man nach diesen Szenen aus dem Effeff zu kennen, und man | |
| kann die gezeigten Filme – „Spur der Steine“ mit Manfred Krug, „Le | |
| samouraï“ mit Alain Delon – geradezu riechen. | |
| In einer anderen Szene kommen Fabian Hoffmann, auf eine vertrackte Art der | |
| Ich-Erzähler des Romans, und seine Schwester Muriel in ihre Wohnung, | |
| nachdem ihre Eltern von der Stasi verhaftet wurden. Ihre Eltern hatten | |
| ihnen ein selbstgedichtetes Kinderlied beigebracht, das exakt die Anordnung | |
| der Möbelstücke in der Wohnung beschreibt, damit sie es feststellen können, | |
| wenn die Wohnung heimlich durchsucht worden ist. Einmal heißt es: „Sagt mir | |
| das Wohnzimmerlied auf, Kinder. Merkt euch: Wenn auch nur eine Linie, nur | |
| eine Verbindung nicht mehr stimmt, sind sie dagewesen.“ „Sie“, das ist die | |
| Stasi, klar. | |
| Von dieser fast am Schluss des Buches stehenden Szene aus lässt sich | |
| rückgreifend sogar in gewisser Weise der gesamte komplizierte Roman | |
| begreifen. War der „Turm“, der Vorgängerroman, bei aller Gespreiztheit und | |
| Kunstanstrengung, schlicht auch ein [1][Abschied von den kulturbürgerlichen | |
| Nischen der DDR-Gesellschaft,] die mit dem zweiten deutschen Staat | |
| untergingen, so ist der „Schlaf in den Uhren“ jetzt, bei allen | |
| Verkünstelungen und allem In-Stimmen-Sprechen, irgendwo auch schlicht die | |
| Geschichte einer Ankunft in neuem, unbekanntem und, in der Romanrealität, | |
| unübersichtlich-feindlichem Terrain, dem unserer Gegenwart nämlich. | |
| ## Jubiläum der Wiedervereinigung | |
| Beschrieben wird, mit einigen Vorgriffen und Seitenbewegungen, die Zeit der | |
| Wende und der August 2015, in dem das 25-jährige Jubiläum der | |
| Wiedervereinigung vorbereitet wird. In dieser neuen Zeit stimmt für den | |
| Erzähler keine Linie und keine Verbindung. Deshalb das Tasten und das | |
| Zusammenrühren der Erzählinstanz: Sie kennt sich nicht aus und muss sich | |
| erst einen Reim auf ihre Wahrnehmungen machen. | |
| So weit könnte man dem Roman sogar noch in die Fiktion folgen. Nur dass er | |
| zugleich auch neue, und zwar sehr eindeutige Linien und Verbindungen zieht, | |
| sie machen ihn dann doch überaus eng. Wenn man das Buch mit Abstand | |
| betrachtet, schnurren seine ausholenden Erzählbewegungen an dem Punkt | |
| zusammen, dass die Staatssicherheit nicht nur die Wiedervereinigung | |
| arrangiert hat, sondern im Geheimen – Bilder einer in einem Bergwerk | |
| arbeitenden Geheimbehörde werden breit ausgewalzt – auch die Geschichte der | |
| wiedervereinigten Bundesrepublik mindestens observiert, wenn nicht | |
| teilweise sogar lenkt. | |
| Das ist natürlich politisch fragwürdig und nahe an einem Aluhutdenken, vor | |
| allem denkt man aber auch, dass es schade ist um die Oktopusse: Ihre | |
| Wahrnehmungsfähigkeit schwimmt, wenn man das Buch wieder zuklappt, in der | |
| Suppe dieser Verschwörungstheorie. | |
| ## „Rechtsnationaler Käse“ | |
| Es gibt zum Erscheinen dieses Romans eine selbst längst fast romanhafte | |
| Vorgeschichte. Als Nachfolger des so erfolgreichen „Turms“ war das Buch vom | |
| Suhrkamp-Verlag mehrfach unter dem Arbeitstitel „Lava“ angekündigt und dann | |
| wieder zurückgezogen worden; öffentlich spekuliert wurde über – durchaus ja | |
| nachvollziehbare – Schwierigkeiten des Verlags mit dem 1968 geborenen | |
| Autor, der sich in Debatten in Pegida-Nähe positioniert, von | |
| „Meinungskorridoren“ geredet und die Geflüchteten des Jahres 2015 mit | |
| Überfremdungsideen zusammengebracht hat. | |
| Die [2][Diskussion mit seinem Autorenkollegen Durs Grünbein] im Jahr 2018, | |
| in dem Tellkamp behauptete, 95 Prozent der Flüchtlinge „kommen her, um in | |
| unsere Sozialsysteme einzuwandern“, wird in dem neuen Roman selbst erwähnt: | |
| „noch immer meldet sich der T. mit kruden Thesen, den von Rechten sattsam | |
| bekannten Opfermythen, zu Wort. Unsere progressiven Kräfte haben damals die | |
| richtigen Worte gefunden und den rechtsnationalen Käse des T. entzaubert.“ | |
| Das ist eine hübsch höhnische Stelle, zeigt doch aber auch etwas von der | |
| Fragwürdigkeit der literarischen Konstruktion dieses Romans. Seine | |
| Grundidee – Fabian Hoffmann ist inzwischen vom Dissidentensohn zum | |
| Mitarbeiter der geheimen Sicherheitsbehörde geworden, in dessen Dienst er | |
| eine Chronik der 25 Jahre seit der Wiedervereinigung anfertigen soll – | |
| nutzt Uwe Tellkamp als Lizenz dazu, alles Mögliche in den Roman | |
| hineinzupacken. Das könnte man nun, alles in allem, als alternativen | |
| Gegenentwurf zu den tatsächlichen Ereignissen der Zeit seit 1990 werten, | |
| wenn denn gerade viele Szenen aus der Gegenwart nicht so oberflächlich | |
| geraten wären und man beim Lesen nicht so oft den Eindruck hätte, inmitten | |
| der oft beeindruckend gedrechselten Satzfolgen ständig die Ressentiments | |
| des Autors zu spüren. | |
| ## Abarbeiten an Bürgerrechtlern | |
| In den Passagen, die zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung spielen, | |
| arbeitet sich der Roman viel an den Bürgerrechtlern der damaligen | |
| Forums-Bewegung ab. Es kommt, das muss man ihm lassen, zu teilweise | |
| grandios gehässigen Passagen, wenn etwa bei einer internen Debatte der | |
| Bürgerrechtler die eigenen basisdemokratischen Grundsätze schon bei der | |
| Frage scheitern, wer denn jetzt mit Kaffeekochen dran ist, oder wenn, in | |
| einer anderen Szene, ein Schriftstellerdarsteller Oskar Brock auftaucht, | |
| der sich schnell als Günter Grass identifizieren lässt und dem Dozieren | |
| frönt: „Sie machten alles falsch, wenn Oskar Brock zu glauben war.“ | |
| Zu einem der Fangarme dieses Romans gehört das Schlüsselromanhafte, und | |
| polemisches Talent hat der Autor. Das Problem ist auch gar nicht, dass | |
| dieser Roman die einzelnen Szenen stark anschneidet und, anstatt einem Plot | |
| zu folgen, zwischen ihnen hin und her springt; mit ein wenig Mühe findet | |
| man sich schon zurecht und muss ja auch in der überbordenden Fantasie des | |
| Autors nicht jeder Abzweigung folgen. | |
| Das Problem ist vielmehr, dass der Roman mit der Erfahrung der Wende und | |
| des damit einhergehenden Systemwechsels eigentlich ziemlich wenig anfangen | |
| kann, außer die eigenen Figuren denunzierend zu karikieren, sich ab und zu | |
| wie zur Erholung in die Vergangenheit zurückzuträumen und immer neue | |
| Hinweise auf die Oberflächlichkeit und Verderbtheit der Gegenwart | |
| aneinanderzureihen. | |
| ## Ähnlichkeiten mit Merkel | |
| Vollends scheitert er daran, die Mechanismen des gegenwärtigen Politsystem | |
| und des sie umgebenden medialen Komplexes zu beschreiben. Die Ereignisse | |
| des Flüchtlingssommers 2015 werden nach und nach abgearbeitet, gebündelt in | |
| einer Figur namens Anne Hoffmann, die viele Ähnlichkeiten mit Angela Merkel | |
| aufweist, das Wort „Mutti“ fällt häufiger. Einmal redet der Erzähler von | |
| dem Versuch, „etwas zu verstehen von dem, was vorging, von der Politik, | |
| die, so dachte ich, unser aller Leben bestimmte, weil sie es zu ordnen | |
| versuchte“. | |
| So eine Durchleuchtung würde man tatsächlich gerne lesen, nur bleibt es in | |
| dem Roman in dieser Hinsicht bei Absichtserklärungen, und man nimmt aus der | |
| Lektüre den dringenden Eindruck mit, dass so eine Analyse des | |
| politisch-medialen Komplexes von einer literarischen Konstruktion, die bei | |
| geheimen unterirdischen Kräften landet, eben nicht zu leisten ist. | |
| Es gibt während des Lesens – oft auch eher mühsamen Durcharbeitens – dies… | |
| Romans Momente, in denen einem eine Wendung einfallen kann, die die mentale | |
| Entwicklung der westdeutschen links-alternativen Alterskohorten in die | |
| westdeutsche Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre beschreibt: Einwandern | |
| ins eigene Land. Auch den 68ern ist die Bundesrepublik ja lange fremd | |
| geblieben. Manchmal blitzt beim Lesen auf, dass dieser Roman auch ein | |
| Dokument des Einwanderns in die Gegenwart von rechts aus hätte sein können, | |
| indem er all die Fremdheitsgefühle und das Misstrauen durcharbeitet, die im | |
| Zuge des Mauerfalls entstanden sind. | |
| Doch diese Momente des Aufblitzens vergehen auch schnell immer wieder. | |
| Tatsächlich herrscht nach dem Lesen der Eindruck vor, dass dieser Roman, | |
| anstatt sich auf sie einzulassen, sich von der Gegenwart literarisch eher | |
| abschottet. Aber vielleicht machen 900 Seiten dieser Tellkamp-Prosa sowieso | |
| auch einfach malle. Und vielleicht ist es auch schlicht so, dass dieser | |
| Roman zu zwitterhaft angelegt ist: zu sehr in sich fragwürdiger politischer | |
| Roman, um rein als literarischer Entwurf einer Gegenwelt mit ihren eigenen | |
| Ordnungsprinzipien gewürdigt werden zu können; und zu sehr | |
| Gegenweltentwurf, um als Gesellschaftsroman, welcher Ausrichtung auch | |
| immer, zu funktionieren. | |
| 14 May 2022 | |
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| Dirk Knipphals | |
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