# taz.de -- Neues Buch von Thilo Sarrazin: Im Zorngewitter | |
> Thilo Sarrazin hat mit Uwe Tellkamp sein neues Buch vorgestellt. Über ein | |
> Spektakel zwischen Pseudophilosophie und apokalyptischen Fantasien. | |
Bild: Schlecht gelaunt: Thilo Sarrazin und Uwe Tellkamp auf dem Podium in Berlin | |
Ein paar Bestseller machen aus einem Autor noch keinen Philosophen und aus | |
einem Rechtspopulisten noch keinen Visionär. Obzwar man am Montag im | |
Berliner Haus der Bundespressekonferenz das Gegenteil anklingen ließ. Auf | |
dem Podium mit Thilo Sarrazin, Uwe Tellkamp und einem Verlagsproduktmanager | |
ging es am Jahrestag der rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen um | |
Sarrazins neues Buch. | |
Der Titel des Buches, „Die Vernunft und ihre Feinde“, ist an keinen | |
Geringeren als den Philosophen und Begründer des Kritischen Rationalismus | |
Karl Popper angelehnt. Poppers Buch „Die offene Gesellschaft und ihre | |
Feinde“ (1945), in weiten Teilen eine Auseinandersetzung mit Karl Marx und | |
eine Verteidigung der liberalen Demokratie, ist eines der wichtigsten | |
Bücher der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. | |
## Philosophisch scheitern | |
[1][Sarrazin, aus der SPD ausgeschlossener Ex-Politiker] und Autor des viel | |
diskutierten Buches „Deutschland schafft sich ab“, mit dem er 2010 den | |
politischen Diskurs effektiv und nachhaltig nach rechts verschoben hat, mag | |
sich gedacht haben, das könne er auch: die Gegenwart gegen vermeintlichen | |
Totalitarismus von links verteidigen und nebenbei ein gewichtiges | |
philosophisches Werk vorlegen. | |
Was jedoch wegen des völlig unterkomplexen Ideologiebegriffs bereits im | |
Untertitel scheitert. Denn steht Ideologie wie bei Sarrazin bloß synonym | |
für Irrtümer und Illusionen, ist der Untertitel „Irrtümer und Illusionen | |
ideologischen Denkens“ eine Tautologie. | |
Anlass seines Buchs ist die von ihm beobachtete Gefahr in Politik und | |
Medien, dass „Logik, Empirie und die Grundlagen solider Wissenschaft“ unter | |
die Räder geraten, wie er schreibt. Neu im Hinblick auf die vorherigen | |
Bücher ist sein pseudophilosophischer Anstrich. Hier will einer ein Werk | |
vorlegen, von einer Gesellschaftstheorie ist das Buch jedoch so weit | |
entfernt wie Dieter Nuhr von Karl Kraus. | |
Dem üblichen Vulgärdarwinismus ist ein persönliches Kapitel vorangestellt, | |
in dem es auch um seinen SPD-Parteiausschluss von vor zwei Jahren geht. Ihn | |
nimmt er zum Anlass, auf der Richtigkeit seiner kruden biologistischen | |
Thesen aus „Deutschland schafft sich ab“ zu beharren. Sarrazins | |
verballhornter Rationalismus aus „richtigem und falschen Denken“ erschöpft | |
sich in der Annahme: Ideologen sind immer nur die anderen. | |
## Laudatio auf einen „Unbequemen“ | |
Nur „passend“ fand Sarrazin am Montag, dass der [2][Großschriftsteller | |
Tellkamp], der 2015 mit der These überraschte, in Deutschland gäbe es einen | |
„Gesinnungskorridor zwischen gewünschter und geduldeter Meinung“, die | |
Buchvorstellung mit einer Laudatio einleitete – einer Laudatio auf „einen | |
Unbequemen“, wie Tellkamp Sarrazin würdigte. Beide haben seinerzeit die | |
„Gemeinsame Erklärung 2018“ gegen die „Beschädigung Deutschlands“ dur… | |
„illegale Masseneinwanderung“ unterschrieben. | |
Während Sarrazin jedoch den entspannten (Pseudo-)Rationalisten gab, wirkte | |
Tellkamp wie ein Wutbürger auf Kokainentzug, als er ein zorniges | |
Wortgewitter über dem Publikum aus ca. 40 Journalist:innen niedergehen | |
ließ, das sogar Sarrazin überrascht haben dürfte, der anschließend sagte: | |
„Wenn Sie meinen Vortrag hören, merken sie den Unterschied von Kunst und | |
Handwerk. Jetzt kommt das Handwerk.“ | |
Tellkamp hatte gewettert und geschimpft, was das Zeug hielt – gegen den | |
„Demokratieeintopf“, das „Staatsschauspiel“ und die „Talkshowkratie�… | |
die Blödheit und den Herdentrieb, die Schwampel und das „Habecken, die | |
„Baerbockenden“, das „Scholzen“ und das „Merzen“ (Merz, der immer n… | |
theoretisch bleibe) und natürlich gegen das „Lauterbachen“ („mehr Diktat… | |
wagen“, „die Gesellschaft ungestraft mit Phantomen einschüchtern“, | |
DDR-Déjà-vu etc). | |
„Habecken“ war so was wie die Oberkategorie unter den pseudosprachgewaltig | |
gereihten Nonsenskategorien und bedeutete „nicht bloß Hamstern, sondern | |
freiwillig Verzichten für den Frieden“. | |
## Störende Partikularinteressen | |
Auch Sarrazin rechnet im letzten Kapitel seines Buches mit der | |
Ampelkoalition ab. Ob Energie, Bildung oder Verteidigung – überall denke | |
man ideologisch statt faktenbasiert. Unnötig, an dieser Stelle auf die | |
Einlassungen über Sprachpolitik und allgemein störende Partikularinteressen | |
hinzuweisen. | |
Woher dieser große Zorn, wollte ein Journalist später von Tellkamp wissen. | |
Tellkamp entgegnete verblüfft zornig: „Woher kommt Ihre Ruhe?“ Er müsse f… | |
seine Familie über Brennmöglichkeiten nachdenken, die Welt würden wir | |
retten wollen, aber nicht einmal die Bahn fahre pünktlich. Während die SPD | |
nur noch die Interessen der „woken, latte-macchiato-süffelnden“ | |
Prenzlauer-Berg-Klientel vertrete, sieht er Sarrazin als einen, der die | |
Philosophen liest und „Ordnung in die Unordnung der Polis“ bringt. | |
Dann wagt Tellkamp noch eine Prognose, nein, er redet sich um Kopf und | |
Kragen und lässt allem Irrationalismus freien Lauf: Wenn das alles so | |
weitergehe, sei der Staat überflüssig und es fände eine Reorganisation auf | |
lokaler Ebene mit begabten Menschen statt, die jetzt nicht zum Zug kämen. | |
Dresden plus ein Landkreis oder so und eine Mauer drumherum. | |
Und während man befürchtete, die Wut könnte ihn zum Platzen bringen, | |
berichtete er von Familienvätern und Kindern, die Ibuprofenvorräte anlegen, | |
und verwechselte irrationales Verhalten mit dem Weltuntergang. Ein sich | |
selbst fütterndes Angstregime, in dem Sarrazin einen Platz als Aufklärer | |
hat. | |
## „Rechts, wo die Mitte ist“ | |
Sarrazin möchte das „positive Wissen“ aus Biologie, Demografie und | |
Evolutionstheorie auch gegen Trumpisten, Putin oder Coronaleugner, also | |
auch gegen Ideologen von rechts, wie er betonte, ins Feld führen. | |
Was im Ergebnis nicht sehr folgenreich sein muss, wenn Ideologie, wie oben | |
erwähnt, nur Irrtümer und Illusionen meint, denn auch unter Rechten mag er | |
solche erkennen können. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass rechtes Denken | |
im Vergleich zu linkem zu Unrecht seit einigen Jahrzehnten immer schon von | |
vorneherein moralisch in Misskredit sei. | |
Sarrazin und Tellkamp als Retter der Republik und Kritiker ideologischen | |
Denkens von links und rechts also? Wenn das die Mitte sein soll, gilt die | |
Aussage des [3][kürzlich verstorbenen Politologen Kurt Lenk: „Rechts, wo | |
die Mitte ist.“] | |
23 Aug 2022 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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