# taz.de -- Frieder Otto Wolf über Louis Althusser: „Er flirtete mit Freud“ | |
> Antiquarisch erlangen die Bücher des französischen Philiosophen Louis | |
> Althusser horrende Preise. Frieder Otto Wolf hat die Aufgabe einer | |
> Neuherausgabe übernommen. | |
Bild: Lustiges Kapital-Verstehen mit einer Geldmaschine für Kinder. | |
Der französische Philosoph Louis Althusser (1918–1990) war einer der | |
einflussreichsten Theoretiker des 20. Jahrhunderts; Michel Foucault, | |
Jacques Derrida, Alain Badiou und viele andere bekannte Autoren waren seine | |
Schüler. Gemessen an der Einflussnahme, löste er nach 1968 Jean-Paul Sartre | |
ab. Zwischen Marxismus, Strukturalismus und Psychoanalyse operierend, gab | |
er wichtige theoretische Anstöße, um das hegelmarxistische Totalitätsdenken | |
und den einfachen Klassenreduktionismus zu überwinden. | |
taz: Herr Wolf, der soeben erschienene, von Ihnen neu übersetzte Band „Das | |
Kapital lesen“ ist eine kleine Sensation. Die Sammlung der Beiträge der | |
französischen Philosophen Louis Althusser, Étienne Balibar, Jacques | |
Rancière und anderen zur wissenschaftlichen Theorie von Marx lag auf | |
Deutsch nur unvollständig vor und ist vergriffen, obwohl das Buch, das 50 | |
Jahre alt wird, als sozial- und kulturwissenschaftlicher Klassiker gilt. | |
Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? | |
Frieder Otto Wolf: Das Buch ist gerade in seiner Langfassung ein Klassiker. | |
Nur in dieser Version wird deutlich, wie eng darin die damals beginnende | |
„Kapital lesen“-Bewegung mit der Arbeit an der „Schwierigkeit, in der | |
Philosophie Marxist zu sein“, verknüpft war. Die internationale Rezeption | |
hat den ersten Teil dieser Symbiose abgeschnitten. Daher enthielt die | |
deutsche Ausgabe nur die Beiträge von Althusser zur Epistemologie des | |
Kapitals und von Balibar zur Bedeutung des Kapitals für einen neuen | |
„Historischen Materialismus“. Zudem war die Übersetzung von Hast und | |
Überforderung geprägt. Das machte es bisher schwer, dieses Werk zu lesen | |
und überhaupt zu verstehen. | |
Althusser wurde ab den frühen 1970er Jahren ins Deutsche übertragen, in | |
einer Zeit, in der die Linke vom Intellektualismus und der Bewegungsferne | |
der Kritischen Theorie frustriert war. Althusser, der vor dem Hintergrund | |
der französischen Erfahrung an revolutionärer Praxis festhielt, erschien da | |
in mancher Hinsicht vielversprechender. | |
Ja, aber das galt nur für eine Minderheit in der marxistischen Debatte. | |
Viel entscheidender war, dass die in Westdeutschland vorherrschende | |
Kritische Theorie, aber auch der offizielle „Marxismus-Leninismus“ der DDR | |
in den philosophischen Interventionen Althussers und seiner Gruppe eine | |
Bedrohung sahen. | |
Und heute? | |
Vielleicht ist inzwischen die philosophische Debatte auch hierzulande so | |
weit, die bis in die Kritische Theorie nachwirkenden, hegelianisierenden | |
und kantianisierenden Formen des Philosophierens endlich hinter sich zu | |
lassen, in deren Rahmen der Beitrag Althussers und seiner Gruppe in der Tat | |
nicht passt. | |
Das Schicksal mangelhafter und entstellender Übersetzungen teilen in | |
Deutschland zahlreiche Autoren der sogenannten French Theory, denken wir | |
nur an die frühen Übertragungen von Michel Foucault. Was bietet die | |
Neuübersetzung des vorliegenden Bandes diesbezüglich für Korrekturen, und | |
was ist an diesen so wichtig? | |
Die Neuübersetzung setzt auf die kritische Mitarbeit der Leserinnen und | |
Leser und führt zahlreiche französische Originalformulierungen an. Zudem | |
habe ich es vermieden, Althusser in ein hierzulande bereits geläufiges | |
philosophisches Idiom zu übertragen. Dennoch liegt nun eine wirkliche | |
Übersetzung vor, die halbfranzösische Zwischenbegriffe vermeidet. So wird | |
zum Ausdruck gebracht, dass mit „structure“ zumeist die materielle „Basis… | |
gemeint ist. Oder dass die Rede von der „conjoncture“ nichts mit | |
Konjunkturzyklen zu tun hat, sondern einfach „Lage“ bezeichnet. Die | |
vielleicht wichtigste Entscheidung war, „objet“ mit „Objekt“ zu überse… | |
Einerseits klingt damit jenseits der etablierten phänomenologischen Rede | |
vom intendierten Gegenstand eine konkrete Materialität an. Andererseits | |
wird so Althussers über Lacan vermittelter Flirt mit Freuds Objektbegriff | |
sichtbar. | |
Die bisherigen Ausgaben von „Das Kapital lesen“, ob nun im Original oder | |
der deutschen Übersetzung, waren auch aus textkritischen Gründen | |
problematisch. So übernahmen die Herausgeber oftmals stillschweigend | |
spätere Änderungen Althussers. Wie sind Sie mit diesem Problem umgegangen? | |
Ich habe mich dazu entschlossen, alle Abweichungen der verschiedenen | |
Originalausgaben und die handschriftlichen Nachbearbeitungen Althussers zu | |
verzeichnen. So ist die nun vorliegende Version des Textes auch eine | |
Vorarbeit zu einer kritischen Originalausgabe. Damit wird deutlich, dass | |
Althusser kein Dogmatiker war beziehungsweise es den verschiedenen Autoren | |
um eine schwierige theoretische Arbeit ging, die einen Versuch darstellte | |
und daher auch Korrekturen unterliegen musste. | |
Die Autoren des nun neu vorliegenden Bandes haben ganz unterschiedliche | |
Wendungen genommen: Jacques Rancière liefert bis heute zahlreiche | |
Reflexionen zur Ästhetik, und von Étienne Balibar kommen innovative | |
Beiträge zur politischen Philosophie. Sind die Grundlagen für diese | |
Entwicklungen bereits in ihren verschiedenen Beiträgen abzulesen? | |
Das ist vielleicht doch ein bisschen zu einfach. Dennoch scheint es mir | |
wichtig, die Beiträge in ihren Differenzen wahrzunehmen und zu verfolgen, | |
wie die Autoren daran weitergearbeitet haben. Rancière unternimmt zunächst | |
eine Radikalisierung und Politisierung des Begriffs der Kritik. Balibar | |
legt eine auf Deutsch leider immer noch nicht verfügbare, kritische | |
Abrechnung mit dem Konzept des Historischen Materialismus als Wissenschaft | |
vor. Macherey vertieft die auch im Zeitalter der elektronischen Medien | |
durchaus wichtige Frage, worum es in der Literatur eigentlich geht, und | |
veröffentlich zudem einen geradezu monumentalen Spinoza-Kommentar. Establet | |
schließlich arbeitet vor allem an einem Verständnis des Klassencharakters | |
des Bildungswesens – in Fortführung eines wegen großer Differenzen | |
aufgegebenen Projektes der Gruppe um Althusser. | |
Warum sollte man heute zu „Das Kapital lesen“ greifen? | |
Gerade in Deutschland sehe ich heute grundsätzlich durchaus die Chance für | |
eine Erneuerung der philosophischen Debatte auf dem Stande einer | |
gegenwärtigen Weltphilosophie. Dies gilt sowohl in Hinblick auf kritische | |
Wissenschaft als auch auf eine radikale Politik der Befreiung. Für diese | |
Debatten ist das Werk einer der klassischen Ausgangspunkte. Es als solches | |
ernsthaft zu lesen, und zwar als ein Work in progress, an dem die Autoren | |
weitergearbeitet haben, das wäre ein wichtiger und produktiver | |
Zwischenschritt! | |
Nach den Bänden „Für Marx“ und „Ideologie und ideologische Staatsappara… | |
aber auch „Über die Reproduktion“, die Sie in den letzten Jahren neu | |
herausgebracht haben, liegt nun ein weiterer Meilenstein Ihrer | |
Althusser-Ausgabe vor uns. Womit ist als Nächstes zu rechnen? | |
Ich möchte bald die Schriften zur politischen Philosophie der Neuzeit | |
wieder zugänglich machen, ergänzt um die inzwischen publizierten | |
Vorlesungen zu diesem Feld. Perspektivisch wird es dann auch möglich | |
werden, das in Deutschland noch weitgehend unbekannte Spätwerk zu | |
publizieren. Althusser hat darin konzentriert an der philosophischen | |
Zuspitzung seiner Philosophie der Befreiung gearbeitet. | |
1 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Kolja Lindner | |
## TAGS | |
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