| # taz.de -- Romandebüt von Ursula Ackril: Besser treten als getreten werden | |
| > Die Autorin taucht mit „Zeiden, im Januar“ tief in die Geschichte der | |
| > Siebenbürger Sachsen ein. Gradlinigkeit verweigert sie sich. | |
| Bild: Verschlossen und doch offen: die Geschichte des Ortes Zeiden. | |
| Dieses Buch fordert einen aufmerksamen Leser, der bereit ist, manche | |
| Kraftanstrengung zu leisten und manche Volte mitzugehen. Es steht quer zu | |
| den Erwartungen, die mittlerweile wie selbstverständlich an einen Roman | |
| gerichtet werden: eine gewisse Gradlinigkeit der Erzählung, einen | |
| rekonstruierbaren Plot, die Möglichkeit zum identifikatorischen Lesen. All | |
| dem verweigert sich Ursula Ackrills Debütroman in aller Konsequenz. Nicht | |
| allein aus diesem Grund, aber auch deshalb ist es ein hoch spannendes, | |
| verwirrendes, Erkenntnisse stiftendes und mitreißendes Buch geworden. | |
| Dass „Zeiden, im Januar“ es überhaupt in die Vertriebskanäle des | |
| deutschsprachigen Buchmarkts geschafft hat, ist ein bemerkenswerter | |
| Umstand, denn der Text landete als unverlangt eingesandtes Manuskript beim | |
| Berliner Verlag Klaus Wagenbach, und wer Lektoren und Verleger schon einmal | |
| über die Plage der unverlangt eingesandten Manuskripte hat reden hören, der | |
| weiß, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein derart komplexes Werk, das nun | |
| aus gutem Grund auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse | |
| gelandet ist, nicht durch das Sieb gefallen ist. | |
| Ursula Ackrill, 1974 in Kronstadt in Siebenbürgen geboren, wurde an der | |
| Universität von Bukarest mit einer Arbeit über Christa Wolf promoviert und | |
| lebt heute als Bibliothekarin in Nottingham. Eine Schriftstellerwerdung | |
| fern aller Literaturbetriebseinflüsse. | |
| „Zeiden, im Januar“ fokussiert sich in seinem erzählerischen Kern auf einen | |
| einzigen Tag, den 21. Januar 1941. Von dort aus schlägt Ursula Ackrill | |
| weite Bögen in die Vergangenheit. Sie betreibt Mentalitätsforschung an | |
| einer Landsmannschaft, der sie selbst angehört, den Siebenbürger Sachsen, | |
| der deutschen Minderheit in Rumänien, die stets ein Spielball der | |
| geschichtlichen Entwicklungen gewesen ist, 1867 Ungarn zugeschlagen wurde, | |
| nach dem Ersten Weltkrieg dann Rumänien; eine Volksgruppe im Zwiespalt | |
| zwischen dem Verlust der politischen Selbstbestimmung auf der einen und | |
| einem ungebrochenen Selbstbewusstsein im Hinblick auf die eigene Stellung | |
| auf der anderen Seite. | |
| ## Fiktion und historisch verbürgte Realität | |
| Der Ort Zeiden, heute: Codlea, ist im Roman der Umwälzplatz für die | |
| politischen Entwicklungen. Hier lebten im Jahr 1930 5.200 Menschen, davon | |
| 3.200 Siebenbürger Sachsen. Eine davon ist Leontine Philippi, Jahrgang | |
| 1888. Sie als die Hauptfigur des Romans zu bezeichnen, würde seiner | |
| Struktur nicht gerecht werden. Leontine, studierte Historikerin, ist die | |
| Chronistin von Zeiden und zugleich ein Reflektor der unterschiedlichen | |
| ideologischen Wellen, die in der politisch aufgepeitschten Zeit durch die | |
| Landschaft gesendet werden. Ackrill vermischt Fiktion und historisch | |
| verbürgte Realität. | |
| Der Zeidner Arzt Fritz Klein, gleicher Jahrgang wie Leontine, wurde 1943 | |
| SS-Truppenarzt und war später als KZ-Arzt in den Konzentrationslagern | |
| Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen beteiligt an den Selektionen für die | |
| Gaskammern. Und auch Victor Capesius, den Ackrill in der Zeidner | |
| Dorfapotheke eine flammende Rede für die Vernichtung geistig Behinderter | |
| halten lässt (Joseph, der Dorfdepp von Zeiden, hört das mit an), leitete ab | |
| 1943 die Apotheken in den Konzentrationslagern Dachau und Auschwitz. | |
| Alles hängt hier mit allem zusammen, und genau deswegen lässt sich ein | |
| solcher Stoff, in dem eine in sich widersprüchliche Volksmentalität | |
| ausgefaltet, aufgeblättert wird, nicht konventionell erzählen. „Zeiden, im | |
| Januar“ ist ein aus vielen Stimmen zusammengesetztes, chronologisch | |
| aufgebrochenes Panorama; ein Wimmelbild, in dem Ackrill beharrlich und | |
| genau die Hinwendung der Siebenbürger Sachsen zum Nationalsozialismus als | |
| eine aus der Perspektive der Handelnden alternativlose Notwendigkeit | |
| herausarbeitet. | |
| Die Siebenbürger Sachsen sind Bauern, gute Schaffer, eine homogene Gruppe, | |
| Handwerker, kräftig die Männer, stämmig und drall die Frauen, man erkennt | |
| sie an ihrer Physiognomie und an ihrem Selbstverständnis: „Wir sind“, so | |
| sagt Leontines Nachbar, „der südöstlichste Posten westeuropäischer | |
| Zivilisation und schon seit Jahrhunderten.“ Man ringt um Autonomie und | |
| Identität. Das Deutschsein erscheint als Ausweg aus der unverschuldeten | |
| Unmündigkeit. Leontine analysiert: „Weil jemand das Deutschtum | |
| schlechtgemacht hat, ist ihnen das Deutschtum das Höchste über alles | |
| geworden.“ | |
| ## Der Nationalsozialismus als reinigende Kraft | |
| Der Nationalsozialismus erscheint als reinigende Kraft; Parolen und | |
| Schlagwörter aus unterschiedlichen Mündern geistern durch den Roman: | |
| „Heilen ist brutal“, heißt es, oder „Besser treten als getreten werden.�… | |
| Man nimmt den Verbrecher Hitler in Kauf. Und man schafft auf brutale Weise | |
| neue Realitäten. | |
| Ackrill bildet eine politisch unübersichtliche Situation virtuos, auch | |
| sprachlich virtuos in all ihrer Unübersichtlichkeit ab. Der Tonfall des | |
| Romans ist ein verwickelter, archaisierender Sound, bildreich und opulent, | |
| hart an der Grenze zum Erträglichen und manchmal, wahrscheinlich ganz | |
| bewusst, auch darüber hinaus. | |
| Nur ein Beispiel: Der Arzt Franz Herfurth, ein alter Freund Leontines, mit | |
| dem sie sich überworfen hat, nimmt an besagtem 21. Januar im Zeidner | |
| Waldbad (auch das ein historisch verbürgter Ort; man kann ihn noch heute | |
| besichtigen auf diversen Homepages von Siebenbürger Heimatverbänden) ein | |
| Bad: „Mit einem Satz voltigiert er ins Becken und sinkt ein, | |
| zusammengefaltet wie ein Suppenstrudel im Teller, bis zu beiden | |
| Nasenlöchern. Das Wasser erwärmt seine Extremitäten, ist aber nicht viel | |
| wärmer als ein Blut. Kopfhaut, Stirne und Schläfe pochen und bluten bald | |
| liberal in seinen Mundwinkel hinein.“ | |
| So klingt, nein, so tönt dieser Roman unablässig, und man kann über die | |
| Stimmigkeit einzelner Bilder streiten; als Gesamtzusammenklang erfüllt der | |
| hohe Ton seinen Zweck: er bildet Stimmungen und Gestimmtheiten ab; er | |
| verbindet Mentalität und Landschaft zu einem Duktus; er erzeugt | |
| Assoziationen. | |
| ## Im Viehwaggon in Richtung Deutschland | |
| Wie es mit Leontine ausgeht, erfahren wir gleich am Anfang. „Zeiden, im | |
| Januar“ mäandert sich durch die Epochen hindurch auf einen Höhepunkt zu: | |
| auf die Dorfversammlung im Rathaus am Abend des 21. Januar. In einem | |
| Nebenraum des Rathauses untersuchen Franz Herfurth und Fritz Klein junge | |
| Männer auf ihre Tauglichkeit für die Waffen-SS. Mit dabei: Andreas Schmidt, | |
| Volksgruppenführer der Deutschen Volksgruppe in Rumänien. | |
| In Bukarest droht die Lage zu eskalieren. Juden werden ermordet, ihre | |
| Körper an Fleischerhaken aufgehängt. Schmidt setzt Leontine massiv unter | |
| Druck; es geht um ihren ehemaligen Liebhaber, den Piloten Albert Ziegler. | |
| Schmidt vermutet, Leontine wisse etwas über seinen Verbleib. Noch in der | |
| Nacht geht sie ins Exil, gemeinsam mit den jungen Männer aus Zeiden, in | |
| einem Viehwaggon in Richtung Deutschland. | |
| Das poetologische Prinzip, dem Ursula Ackrill folgt, ist ausgesprochen: | |
| „Als hätte jemand eine scharfe Lupe in seinen Ausblick eingelegt“, so hei�… | |
| es, bringe die kleine Gemeinde Zeiden die neue Zeit zum Vorschein. Der | |
| Wandel, die neue Zeit – sie finden in Ursula Ackrills fragmentarischen | |
| Episoden ebenso ihre Abbildung wie die Kontinuität einer historischen | |
| Entwicklung. „Meine Aufgabe“, so denkt Leontine, „ist, unseren vergangenen | |
| und gegenwärtigen Lauf mit dem zu verbinden, was kommt.“ | |
| Wohlgemerkt: Sie denkt es, „aber sie kann es nicht sagen.“ Auch ihre | |
| Chronik des Ortes Zeiden bleibt unveröffentlicht. Diesen Akt der | |
| Veröffentlichung hat Ursula Ackrill nun stellvertretend nachgeholt. Und sie | |
| hat damit einen Roman geschrieben, der in seiner Randständigkeit eine | |
| eigenwillige Qualität entfaltet. | |
| 20 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Schröder | |
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