# taz.de -- Georg-Büchner-Preis für Terézia Mora: Vom ziellosen Unterwegssein | |
> Sie mag dem Sprechen nicht recht trauen, der literarischen Sprache aber | |
> traut sie unbedingt: Terézia Mora erhält den diesjährigen | |
> Georg-Büchner-Preis. | |
Bild: Die wichtigste literarische Auszeichnung Deutschlands geht an sie: Teréz… | |
Viele ihrer Figuren haben ihren festen Bezugsrahmen verloren. Karriere, | |
Familie, Freundschaften, auch Herkunft – irgend etwas ist da immer ziemlich | |
falsch bis gewalttätig; oder doch zumindest so leicht falsch. Terézia Mora, | |
die auch die erzählerischen Tonarten der Drastik beherrscht, ist eine | |
Meisterin im Beschreiben des so leicht Falschen im Leben. Doch zurück in | |
feste Bindungen wollen ihre Figuren eben auch nicht, und vielleicht ist der | |
Begriff „wollen“ einfach nicht richtig: Zurück geht es einfach nicht mehr. | |
Was tun in dieser Situation? In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, die | |
die Autorin 2014 gehalten hat, kurz nachdem sie für ihren weit ausholenden | |
und formal eigenwilligen Roman „Das Ungeheuer“ den Deutschen Buchpreis | |
erhielt, sagt Terézia Mora einmal wie zu sich den Satz: „Besprech die | |
Wunde.“ Das lässt sich durchaus als ein literarisches Programm verstehen. | |
In einer Erzählung aus dem zuletzt erschienenen Band „Die Liebe unter | |
Aliens“ hat etwa eine junge Frau ein Stipendium in London erhalten. Über | |
Weihnachten fliegt sie zu ihrer Familie nach Ungarn zurück, wie man das so | |
macht. Und sie spürt: So eng, so festgelegt wie zu Hause kann sie nicht | |
mehr leben. In die Heimat kann die junge Frau nicht zurück. | |
## Was bleibt, ist die Wunde | |
Aber das heißt eben auch nicht, dass das Leben in London funktionieren | |
würde. Auch da gibt es Einsamkeit, Fremdheiten, Unverständnis. Und so hängt | |
die junge Frau irgendwo dazwischen, denkt über eine Trennung nach – und | |
fängt an, spazieren zu gehen, einfach zu laufen, durch London und im | |
übertragenen Sinne auch durch das eigene Leben. Was bleibt, ist die Wunde. | |
Die Stärken der Erzählerin Terézia Mora liegen unter anderem in der | |
Beschreibung solcher ganz konkreten und dann doch wieder komplexen | |
Situationen der Hilflosigkeit. Sind es Übergänge? Ist es das verfehlte | |
Leben? Ist es vielleicht sogar das bestmögliche Leben, das man real zur | |
Verfügung hat? „Schreiben, gehen, schlafen, das ist ein gutes Leben“, hei�… | |
es einmal bei ihr. Glück ist vielleicht ja auch wirklich nicht immer Sache | |
der Literatur. Solchen Situationen lauscht Terézia Mora Dringlichkeit ab | |
und immer wieder auch eine Menge Tragikomik. | |
In ihren Poetikvorlesungen beschrieb Terézia Mora mit dem Motiv einer | |
solchen Enge auch ihre eigene Heimat. 1971 wurde sie in Ungarn als Teil | |
einer sich deutsch verstehenden Minderheit geboren, sie wuchs zweisprachig | |
auf. Als eng schildert Mora nun nicht nur die Repression des | |
kommunistischen Regimes; was ihr den Atem nahm, war auch das Katholische | |
und das Bäuerlich-Rigide im Alltagsleben. Wie viele ihrer Figuren musste | |
sie weg. | |
## Ingeborg-Bachmann-Preis 1999 | |
Seit 1990 lebt Terézia Mora in Berlin. 1997 gewann sie dort den Open Mike, | |
1999 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seitdem hat sie sich einen | |
festen und immer bedeutenderen Platz in der deutschsprachigen | |
Literaturlandschaft erschrieben. | |
Wie es bei ihrer biografischen Ausgangslage ja auch naheliegt, wurde sie | |
dabei gern auf solche Begriffe wie „Grenzgängerin“ oder „Dolmetscherin“ | |
zwischen den Kulturen gebracht. Doch selbst wenn Terézia Mora auch als | |
Übersetzerin arbeitet und etwa Péter Esterházys Roman „Harmonia Caelestis�… | |
aus dem Ungarischen ins Deutsche übertragen hat, treffen diese Einordnungen | |
ihr Werk nicht richtig. Über Grenzen gehen, dolmetschen zwischen | |
verschiedenen Sprachen, Lebensentwürfen und Kulturen – das setzt doch | |
voraus, dass es feste Identitäten, etwa nationale Identitäten oder | |
kulturelle Identitäten, überhaupt noch gibt. In ihren Büchern existieren | |
sie so eben nicht mehr. | |
Und überhaupt kommt man ihrem Schreiben mit Allgemeinbegriffen nicht bei. | |
Vieles an ihren Romanen ist ganz eigen, typisch Mora. | |
## Der Dieb läuft weg, der Marathonmann hinterher | |
Da wäre das Motiv der eigentlich sinnlosen Bewegung. Neben der jungen, | |
ziellos spazieren gehenden Frau in London gibt es in „Die Liebe unter | |
Aliens“ auch einen „Marathonmann“. Das ist ein Frührentner, ehemals | |
Schaffner bei der Bahn, der ein einziges Hobby hat: Er läuft Marathon. | |
Eines Tages wird ihm auf offener Straße Haustürschlüssel und Portemonnaie | |
gestohlen. Der Dieb läuft weg, der Marathonmann hinterher. Eine | |
Verfolgungsjagd durch die Großstadt beginnt. Und das Lustige ist, dass der | |
Verfolger momentweise sogar vergisst, warum er da läuft. Im Laufen entdeckt | |
er noch einmal die Stadt neu. | |
Dieses Laufen, dieses ziellose In-Bewegung-Sein lässt sich mit dem | |
bisherigen Gesamtwerk von Terézia Mora gut verknüpfen. Darius Kopp, ihr | |
Held/Antiheld in den beiden letzten Romanen, „Der einzige Mann auf dem | |
Kontinent“ und „Das Ungeheuer“, fährt mit einem Auto einfach los, als | |
IT-Mann beruflich gescheitert, die Urne seiner Frau, die sich selbst das | |
Leben genommen hat, im Kofferraum. Durch halb Europa geht die Fahrt und | |
weiter, bis nach Georgien und dann zurück nach Athen. Auch hier: das Fahren | |
in unübersichtlicher Lebenslage – und dabei ein Nachdenken über sich und | |
sein Leben. | |
Wer will, kann dieses Motiv, ganz vorsichtig, mit der gesellschaftlichen | |
und politischen Lage in Europa zusammenbringen. Es ist seit dem Mauerfall | |
etwas in Bewegung geraten; wohin es geht, weiß niemand so genau; zurück | |
will man aber auch nicht. Vielleicht ist dieser Road-Movie-Aspekt, der | |
viele Geschichten bei Terézia Mora auszeichnet – aber ohne die Aspekte des | |
heldenhaften Aufbruchs oder der Bewusstseinserweiterung in den klassischen | |
On-the-road-Romanen –, eine literarische Antwort auf die Verschiebungen | |
unserer Zeit. | |
## Sein Leben in vielen Sprachen verfehlen | |
Ein zweites Motiv wäre das einer hilflosen Sprache. Manche Figuren bei | |
Terézia Mora sprechen drei, vier, fünf Sprachen – was ihnen für ihr | |
Verständnis ihres eigenen Lebens nichts bringt. Man kann sein Leben auch in | |
vielen Sprachen verfehlen. Auch dieses Motiv weist innerhalb des Werks von | |
Terézia Mora zurück. Abel Nema, der Held aus ihrem Debütroman „Alle Tage�… | |
ist sehr sprachbegabt, was ihm aber wenig dabei hilft, sein eigenes Leben | |
zu durchdringen. | |
Die verschiedenen Grade der Selbstzerstörung sind diesen Figuren nicht | |
fremd, und „drüber sprechen“ – im Sinne eines therapeutischen: Lass uns … | |
drüber reden – ist oft jenseits ihrer Wirklichkeit. Oft sprechen die | |
Figuren auch aneinander vorbei, oft verschweigen sie auch das, was sie | |
eigentlich sagen wollen, oder sie können es nicht formulieren. | |
Am radikalsten hat Terézia Mora dieses Motiv in „Das Ungeheuer“ umgesetzt. | |
Die Seiten dieses Romans sind zweigeteilt. Oben liest man von den | |
Geschehnissen um Darius Kopp, und unten auf der Seite liest man Texte | |
seiner toten Frau, und erst jetzt bekommt Darius Kopp eine Ahnung von ihren | |
Gedankengängen, von ihrem Leben – jetzt, wo es zu spät ist. In den | |
Erzählungen hat man wiederum den Eindruck, dass so etwas wie Nähe oder | |
Verständnis zwischen den Figuren, wenn, dann eher in den stillen Augenblick | |
da ist. Wenn sie nichts sagen. | |
## Mitschwingenlassen von Ungesagtem | |
Aber während Terézia Mora dem Sprechen nicht recht traut, traut sie | |
unbedingt der literarischen Sprache. In ihren Poetikvorlesungen bezeichnete | |
sie es ausdrücklich als ihren „Hoffnungsvorrat“, dass sie einfach nicht | |
davon ausgehen kann, „dass zu erzählen, etwas in Sprache zu bringen, jemals | |
sinnlos sein könnte“. Im Schreiben und dann auch im Mitschwingenlassen von | |
Ungesagtem kann man sich dann eben doch orientieren – und sei es nur darin, | |
dass man sich bewusst machen kann, was alles schwierig ist an unseren Leben | |
und den Anforderungen, die an einen gestellt werden. | |
Das klingt jetzt leicht melancholisch und ist es oft auch. Doch muss man | |
unbedingt auf die Ironie und die Komik bei Terézia Mora hinweisen. Sie kann | |
sich bis zum Slapstick steigern. In der Erzählung „Die portugiesische | |
Pension“ werden wir Zeuge, wie ein ganzes Leben auseinanderbricht, doch hat | |
man stets das Gefühl, es geht schon irgendwie weiter. Oder vielleicht | |
anders: Es liegt auch eine eigene Schönheit in einem aus dem Ruder | |
laufenden Leben. | |
Bei einer Lesung hat Terézia Mora kürzlich auf die Frage des Moderators, | |
was Literatur könne, wie aus der Pistole geschossen nur ein Wort gesagt: | |
„Alles.“ Während sie las, schaffte sie es, dass man ihr diese Antwort | |
abnahm. Diese Autorin mit dem Georg-Büchner-Preis auszuzeichnen, ist eine | |
einleuchtende, eine schöne Entscheidung der Deutschen Akademie für Sprache | |
und Dichtung. | |
3 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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