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# taz.de -- Neuer Roman von Terézia Mora: Jenseits der eigenen Identität
> Terézia Mora beherrscht die Kunst des gezielten Weglassens. „Muna oder
> Die Hälfte des Lebens“ erzählt von einer großen, toxischen Liebe.
Bild: Wird es der zweite Buchpreis für Terézia Mora?
Alles beginnt schon mit einer Katastrophe. Die alkoholkranke Mutter von
Muna Appelius, Erzählerin in Terézia Moras neuem Roman „Muna oder Die
Hälfte des Lebens“, wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren; sie hatte
versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Und als sei das alles
nicht schon schlimm genug, hat wieder jemand, und es muss jemand aus dem
Haus gewesen sein, die Reifen ihres Fahrrads durchstochen.
Der Krankenwagen will sie nicht mitnehmen und sie muss ihm zu Fuß
hinterherlaufen. „Ihr miesen Arschlöcher“, schreit Muna in den Hinterhof,
und die Nachbarin, die sie vorher noch so nett bedauert hatte, sagt, „eine
junge Dame schreit doch nicht so laut“. Aber ihr ist das egal. Sie will
hier nur weg, weg aus der provinziellen Enge von Jüris, einer fiktiven
Kleinstadt in der DDR, kurz vor dem Mauerfall. Aber sie ist erst 18 und
geht noch zur Schule.
Als ersten Schritt zu Unabhängigkeit und Freiheit fängt sie ein Praktikum
bei der örtlichen Zeitung an. Nach sechs Wochen Kaffee kochen und am Ende
einem Einspalter wechselt sie zum Magazin. Dessen Redaktion besteht aus
drei älteren Herren, von denen sich der Chefredakteur feminin kleidet und
Lippenstift trägt. Als ein freier Mitarbeiter, ein Lehrer mit Namen Magnus
Otto, in der Redaktion auftaucht, ist es um Muna geschehen. „Ich sah“, sagt
sie, „den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde.“
Bei ihrem Ziel, ihn ins Bett zu kriegen, hilft ihr, dass sie jung, schön
und sexy ist. Eine ihr durchaus bekannte Tatsache, die aber nicht immer von
Vorteil war. So musste sie schon früh die sexistischen Witze und Übergriffe
von Männern ertragen. Es sind immer nur wenige, aber wirkungsvolle Stellen,
an denen Terézia Mora ihre Erzählerin deutlich werden lässt. Meist deutet
sie die Dinge nur an, schickt damit allerdings die Vorstellung des Lesers
in eine bestimmte Richtung.
Auch der Sog, den der Roman entwickelt, basiert auf dieser Kunst des
gezielten Erwähnens und Weglassens. Der prekäre Ausgangspunkt von Munas
Erzählung ist mit dem Selbstmordversuch ihrer alkoholkranken, als
Schauspielerin am Stadttheater Jüris arbeitenden Mutter gesetzt. Munas
Vater ist früh gestorben.
## Der Abgrund rückt näher
Dann, als kurz vor dem Mauerfall Magnus von einem Tag auf den anderen
verschwindet, rückt für Muna der Abgrund wieder näher. Im Laufe des Romans
nähert sie sich ihm mal mehr, mal weniger, aber er bleibt immer präsent.
Und hält damit für den Leser die Frage aufrecht, wie das alles enden soll.
Nach Abitur und Mauerfall zieht Muna nach Berlin. Sie beginnt zu studieren,
geht nach Wien, wo sie in einem Kreis von Literaturwissenschaftlerinnen
einen Job in einem feministischen Verlag bekommt. Außerdem arbeitet sie an
einer Doktorarbeit. Ihre Beziehungen zu Männern, stellt sie fest, dienen
ihr nur als Ablenkung davon, an Magnus zu denken.
Jahrelang sucht sie nach ihm. Als er dann plötzlich in Berlin als Dozent an
der Uni wieder auftaucht, hat sie bereits den Job in Wien. Wieder auf ihre
Initiative hin beginnen sie eine Beziehung und pendeln zwischen Wien und
Berlin hin und her. Doch Magnus macht sich immer wieder rar, was Muna in
[1][Ausbrüche von Eifersucht] treibt, bei denen sie die gemeinsame Wohnung
zerlegt. Aber auch er kann sich nicht von ihr trennen und wird, um sie zu
beruhigen, handgreiflich.
## Eine geplante Trilogie
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist „Die weibliche Variante“, wie Te…
Mora im Untertitel schreibt. Und es ist der erste Band einer geplanten
zweiten Trilogie. Ihre erste Romantrilogie hatte sie aus einer männlichen
Perspektive geschrieben, des IT-Fachmanns Darius Kopp.
Auch hier ging es um eine große Liebe. Und es zeigte sich, dass gute
Literatur den Horizont des Lesers jenseits der eigenen Identität öffnen
kann, ohne dass die besondere, von einer bestimmten Identität geprägte
Perspektive einer Figur verraten werden muss. Terézia Mora hat in ihren
Darius-Kopp-Romanen sowohl die richtige Distanz als auch die richtige
Sympathie für ihren Protagonisten gehalten, so wie im neuen Roman für ihre
Erzählerin.
Zur erzählerischen Distanz gehört auch, dass der Text mit Brüchen darauf
hinweist, dass Muna eine nur bedingt zuverlässige Erzählerin ist. Es
handelt sich um durchgestrichene Passagen, mit denen für den Leser, der den
Text darunter lesen kann, die Wahrheit des Erzählten in Frage gestellt
wird. So korrigiert sie sich beispielsweise an einer Stelle, an der sie
sich positiver schildert, als sie in Wirklichkeit ist. Diese typografischen
Eingriffe passen auch zur ruhelosen, knappen Schreibweise, so, als hätte
sie keine Zeit mehr gehabt, die entsprechenden Stellen zu löschen.
„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ steht auf der Shortlist des Deutschen
Buchpreises. „Das Ungeheuer“, der zweite Band der Trilogie um Darius Kopp,
hat den Preis [2][für den Roman des Jahres 2013 gewonnen.] Terézia Mora
wäre die erste Autorin, die ihn zwei Mal gewinnen würde. Ihr neuer Roman
hätte das Zeug dazu.
9 Oct 2023
## LINKS
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[2] /Buchpreis-Traegerin-Terezia-Mora/!5057632
## AUTOREN
Fokke Joel
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traut sie unbedingt: Terézia Mora erhält den diesjährigen
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