# taz.de -- Neue Bücher von David Shields: Ärger mit toxischer Männlichkeit | |
> Wie soll man mit dem Syndrom der toxischen Männlichkeit umgehen? Essayist | |
> David Shields hat gleich zwei Bücher zum Thema geschrieben. | |
Bild: Protagonist in dem Buch: „Nobody Hates Trump More Than Trump: An Interv… | |
Der 62-jährige David Shields ist in den USA als Schriftsteller, Filmemacher | |
und Literaturprofessor eine zwar umstrittene, aber allgemein respektierte | |
öffentliche Person. Seine Bücher spielen auf den Bestsellerlisten der | |
[1][New York Times] eine Rolle, seine Stimme hat in den politischen und | |
literarischen Debatten des Landes Gewicht. In Deutschland wurde die | |
Übersetzung von „Reality Hunger“ 2011 mit respektvoller Verwunderung zur | |
Kenntnis genommen und als Außenseiterposition abgebucht. | |
Diese anspruchsvolle Kombination aus Autobiografie, Zitatfeuerwerk, | |
Pastiche und Gedankendrama fordert die Leserin auf jeder Seite intensiv. | |
Sie passt wenig auf die Vorerwartungen eines Literaturbetriebs, der es | |
einerseits liebt, sich in den spannungsreichen Handlungsbögen und | |
politischen Aktualitätsbezügen einer neonaturalistischen Kunstindustrie zu | |
verlieren, und der andererseits die so wandlungsfähige Gattung des Essays | |
einzig als Sonntagsrede über die angeblich großen Themen kennt und pflegt. | |
Dass eine auch formal zeitgenössische Essayistik den relevanten Fragen der | |
Zeit womöglich umstandsloser und flüssiger nahekommt als Problemroman und | |
Leitartikelessay, kann man anhand der Lektüre der beiden letzten (noch | |
unübersetzten) Bücher David Shields’ instruktiv studieren. Ihr Thema | |
verdankt sich der Anwendung des bewährten Oral-History-Mantra „Grab, wo du | |
stehst“ auf die eigene Person. | |
Shields benutzt in ihnen seine essayistischen Erzählweisen für die | |
literarische Tiefenausleuchtung [2][toxischer Männlichkeit]. Das Syndrom | |
gewaltförmig überkompensierter Unterlegenheitskomplexe, das unter anderem | |
durch #MeToo einer massenhaften öffentlichen Kritik zugeführt wurde, ist | |
ein paradox zusammengesetztes Gefühlskonglomerat. Grandiose und depressive | |
seelische Komponenten kommen in bestimmten Machtkonstellationen auf | |
explosive Weise zusammen und verhalten sich dann wie die Bestandteile eines | |
Komposit-Sprengstoffs. | |
## Die Sehnsucht nach Zuspruch | |
Das erste der beiden Bücher über dieses explosive innere Gemisch, „Nobody | |
Hates Trump More Than Trump: An Intervention“ von 2018, bildet die | |
elaborierte Antwort auf eine einfache Frage: „Warum bin ich mein Leben lang | |
zur Zielscheibe von bullies geworden? War es mein Stottern, das mich daran | |
gehindert hat, ihnen direkt entgegenzutreten? Und womit reden sich alle | |
anderen heraus?“ (Übersetzungen der Zitate von mir, S.W.). | |
Diese Frage ist typisch für den involvierenden Denk- und Darstellungsstil | |
dieser Bücher, die den Leser zurückführen in die eigene Geschichte | |
vis-à-vis gewisser Kindheitserlebnisse auf dem Schulhof vor Jahrzehnten | |
oder in die eigene Sprach- und Machtlosigkeit in der hierarchietrunkenen | |
Männerrunde neulich, als jeder zu laut lachte und verzweifelt mit einem | |
noch zugkräftigeren Thema noch aggressiver und dümmer zu Wort zu kommen | |
versuchte als der Vorredner: der sattsam bekannte corporate hee-haw. | |
In solchen Momenten entsteht die Sehnsucht nach jener Art von Zuspruch, die | |
– wie Wittgenstein irgendwo sagt – der Fliege den Ausweg aus dem | |
Fliegenglas weisen könnte. „Ich wünsche mir schon so lange ein vollkommen | |
zeitgenössisches Bedienungshandbuch darüber, wie man einen bully aufs Kreuz | |
legt, in dem die Erkenntnisse unserer besten Köpfe – Philosophen, | |
Soziologen, Neurowissenschaftler – sogar Komiker – sich dieser | |
Herausforderung stellen. Natürlich habe ich dieses Buch nie gefunden.' Hey | |
Mann, du liest es gerade.“ | |
## Tiefenportrait eines unsicheren Mannes | |
Bedienungshandbuch (manual) ist allerdings eine irreführende | |
genretheoretische Selbstcharakteristik. Shields’ Buch gleicht in | |
Wirklichkeit eher einem assoziativen Werkzeugkasten, in dem sich eigene | |
Äußerungen Donald Trumps (der sich in seinen öffentlichen Einlassungen | |
bekanntlich viel mit sich selbst und seinen inneren Regungen beschäftigt), | |
analytische Einsichten anderer Autoren und nicht zuletzt David Shields’ | |
seelengeologische Versuchsbohrungen in die eigene Psyche um ein komplexes | |
Bild des Geschäftsmanns, Gesellschaftslöwen, Reality-TV-Stars und | |
Politikers Donald Trump konstellieren. | |
Es ist das Tiefenporträt eines fast borderlineartig unsicheren Mannes von | |
ursprünglich recht begrenzten Fähigkeiten und Erfolgen, den | |
Wohlstandsverwahrlosung und eine vollständige Verinnerlichung einer | |
Vulgärversion des American Way of Life in eine machtgestützte | |
Wirklichkeitsverweigerung getrieben hat. | |
Die gedankliche Wendung, die Shields’ Buch nun tatsächlich zu einer so | |
wirksamen Intervention macht, besteht darin, dass er diese komplexe und | |
widersprüchliche Figur sich nicht durch Polemik, „Entlarvung“ und Abscheu | |
vom Leib hält (wie es der Rest seiner liberalen Community bis zum Überdruss | |
hält), sondern dass sie psychische Konstellationen, die diesen Präsidenten | |
ermöglichten, nicht zuletzt in der eigenen Psyche dingfest macht – eine | |
analytische Leistung, die dem Spiel zwischen Übertragung und | |
Gegenübertragung in der talking cure gleicht. | |
## Kurzabschnitte schicken auf innere Reise | |
Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wird durch dieses Verfahren | |
erkennbar als die Figur des „Angstbeißers“ – eines frühen Opfers von | |
bullying, das zum bully wird, um nie wieder in diese demütigende Lage zu | |
kommen. Die lockere gegenstrebige Fügung (die Shields’ kurze Bücher | |
übrigens zu einer überraschend zeitraubenden Lektüreerfahrung machen) zieht | |
die Leserin in diese Selbsterforschung als politische Charakterkunde | |
unwiderstehlich hinein. Man hält oft inne, um sich durch die immer auf eine | |
Pointe hin gearbeiteten Kurzabschnitte auf seine eigenen inneren Reisen | |
schicken zu lassen. | |
Solche inneren Reisen gewinnen im zweiten, an das Buch über Donald Trump | |
anschließenden „Männerbuch“ David Shields’ eine Radikalität, die seine | |
Lektüre zu einer seitenweise fast unerträglichen Selbsterfahrung macht. | |
„The Trouble with Men“ (2019) ist eine Art Brief des Schriftstellers an | |
seine Ehefrau und eine Analyse des eigenen Masochismus, die diese Variante | |
des Sexual- und Seelenlebens mit einer literarischen Energie in das Licht | |
des Sagbaren und Anschaubaren zieht, die an Baudelaires „Mein entblößtes | |
Herz“, an Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“ oder an d… | |
Vivisektionen der männlichen Eifersucht in Prousts „Recherche“ erinnert. | |
Überraschend ist an Shields’ Selbstanalyse der politische Ansatz. Sex, | |
Pornografie, Liebe, Ehe, Macht und das Stottern (dem Shields einen frühen, | |
traditionell-fiktiven Entwicklungsroman gewidmet hat) sind in seinem | |
neuesten Buch Untersuchungsfelder, auf denen jene autobiografische | |
Grundfrage verhandelt wird: „Warum bin ich mein Leben lang zur Zielscheibe | |
von bullies geworden?“ | |
Denn die männliche Verletzung, um die es David Shields geht, hat nicht nur | |
eine grandiose, laute und gewalttätige Seite, sondern auch eine depressive, | |
deren politische Dimension und Folge dieselbe Identifikation mit dem | |
Aggressor darstellt, die Millionen politisch und ökonomisch marginalisierte | |
Amerikaner 2016 dazu gebracht hat, sich mit einem narzisstisch gestörten | |
Milliardär zu identifizieren. Aber auch die Unterwerfungslust, die ihre | |
Kinder dazu treibt, während ihres teuer bezahlten Studiums die vielfältigen | |
Selbstgeißelungsangebote der Identitätspolitik wahrzunehmen, stammt aus | |
trüben Quellen. | |
## Die innere Rebellion | |
„Oft scheinen die Werte, die in der akademischen und literarischen Kultur | |
Geltung haben, das genaue Gegenteil derjenigen zu sein, die das | |
[3][Trump-Universum] regieren. In Wirklichkeit ergänzen sie sich aufs | |
Genaueste.“ Das erste dieser beiden Bücher schildert, wie ein bully | |
entsteht, das zweite, wie seine willigen Opfer zugerichtet werden. Liegt | |
der Quellpunkt der erotischen und dann auch politischen Unterwerfung in dem | |
„Stottern, das mich daran gehindert hat, ihnen direkt entgegenzutreten? Und | |
womit reden sich alle anderen heraus?“ So schwer das alles seitenweise zu | |
lesen ist, so deutlich treibt es den Leser in eine Art innere Rebellion | |
hinein, die der Autor möglicherweise gar nicht intendiert hat, die aber zu | |
den politischen Wirkungen seines Buchs gehört. | |
Man wünscht nämlich unwillkürlich, dass das Diptychon dieser beiden | |
schrecklichen, interessanten und wichtigen Bücher mit einem dritten zu | |
einer Trilogie ergänzt werden möge. Man ist sich instinktiv sicher, dass | |
ein solcher (noch?) imaginärer dritter Teil von Shields’ Unternehmung der | |
Wittgenstein’schen Fliege einen Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen könnte. | |
Die toxische Dialektik zwischen dem narzisstischen bully und dem | |
depressiven Stotterer – das kann, so ist man dann unwillkürlich überzeugt, | |
nicht das letzte Wort der Männlichkeit im 21. Jahrhundert gewesen sein. | |
Die Sehnsucht nach einer aufrecht gehenden, selbstbewusst männlichen und | |
zugleich selbstreflexionsfähigen, freundlich wohltätigen und politisch | |
handlungsfähigen Generation von Männern – der Wille, zu einer solchen | |
Generation zu gehören und sie in sich hervorzubringen – ist das dringende | |
Gefühl, das der Leser aus seiner Lektüre davonträgt. Was man als die | |
psychotherapeutische „Männerbewegung“ kennt (und allzu oft belächelt), | |
publizistische Projekte wie das von Herb Goldberg in den USA sind erste | |
Schritte auf einem Weg, den David Shields Leserinnen und Lesern paradoxal | |
aufzeigt, indem er in tiefschwarzen Büchern zwei konträre und zugleich | |
voneinander abhängige Sackgassen psychischer Entwicklung entschlossen und | |
unerschrocken bis zum ihrem dunklen Ende verfolgt hat. | |
Vermutlich kann der noch geträumte dritte Band dieser Trilogie nur von uns | |
allen – Männern und Frauen, Müttern und Vätern – und nur in der Realität | |
geschrieben werden. | |
8 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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